Über die Verkettung der Ereignisse beim Flugunglück von Teneriffa und die Fehlerkette darin lesen Sie hier:
1. Die Verkettung dramatischer Umstände
1.1. Eine Explosion auf Gran Canaria
Am Sonntag, den 27. März 1977, explodierte auf dem Flughafen von Gran Canaria eine Bombe. Der Flughafen wurde gesperrt, die Polizei suchte nach weiteren Sprengsätzen. Große Flugzeuge, darunter zwei vom Typ Boeing 747, wurden zum Flughafen Los Rodeos auf Teneriffa umgeleitet.
Der Jumbo-Jet der KLM, mit der Flugnummer 4805, flog von Amsterdam an. Der andere gehörte der Pan Am und war mit der Flugnummer 1736 auf dem Weg von Los Angeles zu den Canarischen Inseln mit einem Zwischenstop in New York.
Die Explosion und die nachfolgende Umleitung der Flüge sind die ersten beiden Glieder unserer Verkettung.
1.2. Weitere Glieder der Verkettung finden wir auf dem Flughafen Los Rodeos
Los Rodeos ist ein kleiner Flughafen, der in 632 Metern Höhe über dem Meeresspiegel liegt. Da er sich im Schatten des mächtigen Vulkans Pico del Teide befindet, wird er häufig in Nebel gehüllt, der vom Berg heruntersteigt.
Auf diesem Flughafen, der üblicherweise nur wenige, kleine Flugzeuge aus der Region abfertigt, gab es zu dem Zeitpunkt keinen Bodenradar. Zudem funktionierte die Mittellinienbefeuerung der Landebahn nicht.
Nur zwei Fluglotsen taten im Tower Dienst, wie an Sonntagen üblich. Sie waren nicht an solch starken Flugverkehr gewöhnt, erst recht nicht an Jumbo-Jets.
Die Crews der an diesem Tag ankommenden Flugzeuge wurden angewiesen, auf dem Rollfeld zu parken, eine andere Wahl bleibt den beiden Fluglotsen nicht.
Zwischen dem Rollfeld und der Startbahn gibt es vier Verbindungswege, C1 bis C4. Nummer 1 und 2 waren durch die geparkten Maschinen nicht mehr zugänglich. Nummer 3 und 4 sind in der Unfallskizze im ICAO Circular 153-AN/56 auf Seite 57 abgebildet.
2. Die Verkettung setzte sich fort
2.1. Eine stundenlange Wartezeit
Die Maschine der KLM stand vor dem Jet der Pan Am am Rande des Rollfeldes. Die Mannschaft aus den Niederlanden, (Kapitän Jacob Veldhuyzen van Zanten, Erster Offizier Klaas Meurs, Maschinist Willem Schreuder) entschied sich, bereits hier 55 Tonnen Kerosin zu tanken, um auf Gran Canaria Zeit zu sparen. Schließlich stand noch der Rückflug nach Amsterdam an, und die Crew war in Sorge, die maximale Dienstzeit zu überschreiten.
Die Crew der Pan Am (Kapitän Victor Grubbs, Erster Offizier Robert Bragg und Maschinist George Warns) stieg aus dem Cockpit, um zu eruieren, ob sie an der KLM Maschine vorbei zum Start gelangen könnten, doch es fehlten 3,7 Meter Platz. Dies ist wenig bei einer Flügelspannweite von jeweils 59,6 Metern.
2.2. In dichtem Nebel zum Start
Als endlich Möglichkeit zum Weiterflug nach Gran Canaria bestand, lag der Flughafen Los Rodeos in dichtem Nebel.
Bei Sichtweiten von teilweise unter 300 Metern wurden die Flugzeuge nacheinander an den Start geschickt. Dabei rollten sie entlang der Startbahn, nicht über das Rollfeld, da dort die wartenden Flugzeuge geparkt standen.
Die Piloten wurden angwiesen, sich direkt hintereinander zum Ende der Startbahn zu begeben, es wurde nicht gewartet, bis ein Flugzeug sicher gestartet ist.
Das KLM Team sollte eine Drehung von 180 Grad vornehmen, um sich für den Start zu positionieren. Das Team der Pan Am sollte auf den Verbindungsweg C3 ausweichen, der im spitzen Winkel nach links von der Startbahn abzweigt.
2.3. Kapitän van Zanten löste die Bremsen, die Pan Am Crew suchte Verbindungsweg C3
Kapitän van Zanten war bereit zum Start, der erste Offizier meldete der Flugaufsicht: „We are now at take-off.“ Der Satz könnte auch „We are now – uh – takin´ off“ gelautet haben. Dies läßt sich in den vorhandenen Tonaufnahmen nicht klar unterscheiden.
Im ersten Fall wäre die Maschine in Startposition gewesen, im zweiten bereits dabei, zu starten. Auch der Fluglotse schien erstaunt, er antwortete: „OK (pause), stand by for take-off, I will call you“ (okay, halten Sie sich zum Start bereit, ich werde Sie aufrufen).
Die Mannschaft der Pan Am, die im dichten Nebel den Verbindungsweg C3 suchte, erwiderte sofort über Funk, daß sie sich noch auf der Startbahn befanden. Das Team im Tower wies sie an, sich zu melden, sobald sie die Startbahn verlassen hätten.
Die Flugaufsicht hat der KLM Crew nie die Starterlaubnis erteilt. Dennoch löste van Zanten die Bremsen und begann, das massive Flugzeug zu beschleunigen, während der erste Offizier noch mit der Flugaufsicht kommunizierte.
Willem Schreuder, der Maschinist, bekam allerdings den Funkspruch der Pan Am mit und wagte ein Speak up. Er fragte Kapitän van Zanten, ob sich die Pan Am die Startbahn eventuell noch nicht verlassen hätte. Dieser entgegnete mit einem betonten „Oh yeah“, etwa: Oh doch! Auf diese Art abgebügelt, traute sich der Maschinist nicht, zu insistieren.
3. Der Zusammenstoß auf der Startbahn
Der Copilot der Pan Am sah den aus dem Nebel auftauchenden Jumbo-Jet der KLM zuerst. Auf sein laut gerufenes „get off, get off, get off“ hin, begann Kapitän Grubbs eine scharfe Linkskurve und beschleunigte gleichzeitig. In der Kabine wurden die Passagiere und das Personal durchgeschüttelt.
In dem Moment bemerkte van Zanten, daß die Pan Am Maschine sich unmittelbar vor ihm auf der Startbahn befand. Er riß den Steuerknüppel so scharf nach hinten, daß bei diesem Startversuch das Heck der KLM Maschine an der Startbahn entlangschleifte.
Das vordere Fahrwerk konnte über die Pan Am hinweggehoben werden, nicht jedoch das rechte äußere Triebwerk, welches den Rumpf der Pan Am streifte. Auch durch die zusätzlichen 55 Tonnen Kerosin war die Maschine zu schwer dazu.
In der Folge stürzte die KLM Maschine auf die Startbahn und ging in Flammen auf. Die Pan Am Maschine fing ebenfalls Feuer. Zudem liefen die Triebwerke weiter und begannen, Metallstücke herumzuschleudern. 61 Passagiere und insgesamt neun Mitglieder der Mannschaft der Pan Am schafften es, sich ins Freie zu retten. Leider erlagen neun dieser Passagiere später ihren Verletzungen.
4. Die Aufarbeitung zeigte technische und menschliche Fehler auf
Die Untersuchung des Flugunfalles nahmen spanische, niederländische und amerikanische Experten vor.
4.1. Überlagerung relevanter Funksprüche
Die Auswertung der Stimmenrecorder aus dem Cockpit ergab, daß sich Funksprüche überlagert hatten, als die Flugaufsicht mit dem KLM Team kommunizierte und gleichzeitig der Erste Offizier der Pan Am meldete, daß sich die Maschine immer noch auf der Startbahn befand.
Daher konnte das KLM Team von dem Satz „OK, stand by for take-off, I will call you“ nur das „OK“ vernehmen, während der Rest des Satzes in einem verzerrten Geräusch unterging.
4.2. Verpaßte Abzweigung als weiteres Glied in der Verkettung
Das Wrack des Pan Am Jumbo-Jets wurde zwischen C3 und C4 gefunden, was eindeutig darauf schließen läßt, daß die Mannschaft die Abzweigung verpaßt hatte. Ursachen für dieses weitere Glied in der Verkettung können der dichte Nebel, Ablenkung durch den Funkspruch der KLM Mannschaft sowie mangelnde Vertrautheit des Teams mit dem Flughafen gewesen sein. Zudem waren die Abzweigungen unzureichend markiert.
4.3. Mögliches Trainingssyndrom
Kapitän van Zanten hatte zuletzt vornehmlich als Trainer im Simulator gearbeitet. Dort liegt die Konzentration ganz auf dem gerade geübten Flugmanoeuver. Dadurch könnte die situative Aufmerksamkeit im echten Flug, bei welchem man alle Information aus der Umgebung mit einbeziehen muß, beeinträchtigt gewesen sein.
4.4. Abzweigung zu C3 im spitzen Winkel für Jumbo-Jets vermutlich unmöglich
Der Verbindungsweg C3 zweigt im spitzen Winkel von der Startbahn ab. Wie Experten nach der Untersuchung äußerten, könnte es für Piloten eines Jumbo-Jets nahezu unmöglich sein, in diesem Winkel abzubiegen. Da die Flugaufseher keine Erfahrung mit so großen Flugzeugen hatten, könnten sie dies nicht bedacht haben.
Wie wir insgesamt erkennen können, hat eine Verkettung aus äußeren Umständen, die teilweise schon vor der Landung auf dem Flughafen Los Rodeos begannen, technischen Unzulänglichkeiten und menschlichen Fehlern ihren Anteil an der Katastrophe. In der nachfolgenden Abbildung finden Sie diese zusammengefaßt.
![Verkettung der Ereignisse auf Teneriffa Copyright Communicatio optima Dr Schottdorf](https://www.communicatio-optima.com/wp-content/uploads/2021/09/verkettung-ereignisse-teneriffa-copyright-communicatio-optima-dr-schottdorf-1024x722.png)
5. Kurze Wiederholung der Fehlerkette
Wie im letzten Blogartikel dargelegt, hat die Untersuchung von über 300 Vorkommnissen und Unfällen in der Luftfahrt zum Modell der Fehlerkette mit ihren elf Gliedern geführt. Darin sind die elf Glieder der Fehlerkette klar definiert und beziehen sich auf menschliche Faktoren.
Eine Verkettung von Ereignissen, wie wir sie oben gesehen haben, enthält dagegen auch Faktoren aus der Umgebung, hier den Nebel und die Überlagerung der Funksprüche. Nun, nach einer kurzen Wiederholung der Fehlerkette anhand der unten erneut gezeigten Abbildung, werden wir erkunden, welche ihrer Glieder wir in dieser Verkettung der Ereignisse entdecken.
![Die Fehlerkette und ihre elf Glieder Copyright Communicatio optima Dr Schottdorf](https://www.communicatio-optima.com/wp-content/uploads/2021/08/die-fehlerkette-copyright-communicatio-optima-dr-schottdorf-1024x728.png)
6. Entdeckung der Glieder der Fehlerkette in der Verkettung der Ereignisse
Betrachten Sie noch einmal die Verkettung der Ereignisse unter 4.
Welche Glieder der Fehlerkette können Sie erkennen?
6.1. Ablenkung/Vertieftsein
Die Pan Am Crew war, während sie die Startbahn entlangrollte, durch den Funkspruch der KLM abgelenkt und verpaßte auch dadurch ihre Abfahrt auf den Verbindungsweg.
Durch die Sorge, die Dienstzeit zu überschreiten, könnte die KLM Mannschaft in ihrer Konzentration gestört gewesen sein.
6.2. Verwirrung gab es genügend in der Verkettung
Wir können nur versuchen, uns in die Teams, die sich mitten in dem Geschehen befanden, hineinzuversetzen. Allein schon die Ausgangslage mit vielen Flugzeugen in Los Rodeos, die Bombenexplosion, die lange Wartezeit sowie die Unklarheit darüber, wann und wie es weitergeht, haben sicher zur Verwirrung beigetragen.
Flugaufsicht
Die beiden Flugaufseher mußten zu viele Flüge auf einmal und zu große Flugzeuge ohne Bodenradar im dichten Nebel in einer außergewöhnlichen Situation koordinieren.
Der mehrdeutige Funkspruch des KLM Copiloten: „We are now at take-off“/“we are now – uh – takin´ off“ sorgte sicher für einen weiteren Moment der Verwirrung.
Pan Am Team
Auch das Pan Am Team wurde durch den Funkspruch der KLM Mannschaft verwirrt, der Copilot reagierte sofort. Wir sehen hier, daß Ablenkung zusätzlich verwirren kann.
Was die Passagiere und das Kabinenpersonal im gesamten Verlauf an Verwirrung erlebt haben, können wir uns nur vorstellen.
6.3. Anwendung eines nicht dokumentierten Vorgehens
Da es sich um ein noch nie dagewesenes Ereignis handelt, entspricht vieles von dem, was auf dem Flughafen geschah, diesem Glied in der Fehlerkette:
- Flugzeuge wurden auf dem Rollfeld abgestellt
- die Piloten wurden auf der Startbahn zum Start geschickt
- die beiden Jumbo-Jets rollten fast direkt nacheinander zu ihrem Start
- ein Jumbo-Jet wurde zu einer Drehung im spitzen Winkel angewiesen
6.4. Ungelöste Diskrepanzen
Nach dem Speak up des Maschinisten erfolgte keine Klärung der Situation.
6.5. Nichterreichen von Zielen an verschiedenen Stellen der Verkettung
Das KLM Team drohte, seine Dienstzeit zu überschreiten.
Insgesamt gab es stundenlange Verspätungen für alle umgeleiteten Flüge.
Die Mannschaft der Pan Am verpaßte die Abfahrt zu C3.
In allen Fällen läßt sich kein Vorsatz erkennen, es handelte sich also nicht um absichtliches Überschreiten von Vorgaben.
6.6. Inkomplette Kommunikation
Der Satz „we are now at take-off“/“we are now – uh – takin´ off“ war mißverständlich (ICAO Circular 153-AN/56, Seite 62 ff.).
Durch die Überlagerung der Funksprüche bedingt, ging ein entscheidender Teil des Antwortsatzes verloren.
Das Speak up führte nicht zu einer Überprüfung der Situation. Wenn ein Team eine Diskrepanz nicht durch geeignete Kommunikation löst, bleibt auch in einem solchen Fall die Kommunikation inkomplett.
6.7. Übertreten von Limitationen/Regularien
Ein Übertreten von Limitationen/Regularien kann für den Start ohne Starterlaubnis diskutiert werden. Doch beruhte dieser Start auch auf den nicht standardisierten Sätzen und der Überlagerung der Frequenzen, weswegen wir mit der Interpretation hier vorsichtig sein sollten.
7. Fazit Verkettung/Fehlerkette und womit niemand gerechnet hatte
Manche Glieder der Fehlerkette sind für uns eindeutig erkennbar. Teilweise ist im Nachhinein nicht zu klären, was bei den Teams wirklich vorging. Dennoch können wir mehr als drei Glieder der Fehlerkette in dem gesamten Unglück ausmachen.
Anhand der identifizierten Glieder der Fehlerkette sehen wir, daß mehrere in den jeweiligen Teams Handlungen veranlaßt oder vorgenommen haben, welche das Unglück mitbedingt haben. Diese sind in die Verkettung der Ereignisse eingeflochten.
Zu den Handlungen trug sicher bei, daß niemand mit folgendem gerechnet hatte:
- die Flugaufsicht nicht damit, daß die Pan Am Crew die Abzweigung verpassen könnte
- die Pan Am Mannschaft nicht mit dem plötzlichen Start der KLM Crew
- die Flugaufsicht hatte ebenfalls nicht mit dem Start der KLM Maschine ohne Starterlaubnis gerechnet
- alle drei Teams hatten die Überlagerung der Funksprüche mit dem Informationsverlust nicht erwartet
8. Resultierende Verbesserungen der Flugsicherheit
Bei der langwierigen und minutiösen Untersuchung des Flugunfalles wurden alle Facetten beleuchtet. Daraus leiteten verschiedene Institutionen und Behörden Maßnahmen zur Maximierung der Sicherheit im Flugverkehr ab.
Überblick über die ergriffenen Maßnahmen:
- neuer Flughafen auf Teneriffa auf Meereshöhe
- Bodenradar auf dem Flughafen Los Rodeos
- standardisierte Kommunikation im Funkverkehr
- erste Generation des CRM: Abflachen der Hierarchien im Cockpit und Speak up
- Gerät für Flugzeuge, das überlagerte Funksprüche blockiert, bislang nicht vorgeschrieben
Im Gedenken an die 583 Opfer, aber auch an diejenigen, die schwerverletzt und seelisch traumatisiert wurden.
9. In meinem nächsten Blogartikel lesen Sie:
Eindrücklich haben wir in dem Beispiel gesehen, daß das Speak up keine entsprechende Reaktion nach sich zog und in der damaligen Kultur nicht mit der nötigen Durchsetzungskraft wiederholt wurde. Was hat sich seitdem geändert? Und was verstehen wir im CRM unter „just culture“?
Stöbern Sie gerne noch in früheren Blogartikeln.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 18. September 2021