Wie Piloten Gefahren und Risiken mit speziellem Training gekonnt erkennen, bewerten und meistern, lesen Sie hier:
1. Überblick über die Entscheidungsfindung in der Luftfahrt, ADM
Im Englischen heißt dieses Gesamtkonzept aeronautical decision-making und besitzt die praktische Abkürzung ADM. Piloten werden in dieser Entscheidungsfindung speziell unterrichtet. Dabei liegt das Augenmerk auf dem Erkennen und Einschätzen von Gefahren und Risiken und dem erfolgreichen Umgang damit durch adäquate Entscheidungen.
Weiters spielen das Bewußtsein über den Faktor Mensch und den Umgang damit, die Streßbewältigung sowie die erfolgreiche Handhabung der zunehmenden Automatisierung eine wesentliche Rolle im ADM.
Crew Resource Management wird im ADM als ein Teilkonzept zur gelungenen Umsetzung betrachtet. Die Nutzung aller Resourcen und Einbeziehung aller Informationen hilft bei der Entscheidungsfindung.
Ziel des ADM ist es, unter Einbeziehung der oben genannten Teilgebiete diejenigen Entscheidungen zu treffen, die den Erfolg und die Sicherheit eines Fluges optimieren. Nachfolgend werden wir den Umgang mit Gefahren und Risiken im ADM herausgreifen.
2. Was sind Gefahren und Risiken?
In vielen Fällen werden die beiden Begriffe nicht scharf voneinander getrennt. Häufig wird von Risiko gesprochen, obwohl es eigentlich zunächst um eine Gefahr geht, aus welcher sich ein bestimmtes Risiko ergibt. Nachfolgend sehen wir uns zuerst die Begriffe „Gefahr“ und „Risiko“ getrennt voneinander an und anschließend, wie Piloten mit beiden umgehen.
2.1. Gefahr
Eine Gefahr stellt jedwedes reales oder als solches empfundenes bedrohendes Element dar, das sich einer Crew präsentiert. Die Beispiele hierfür sind zahlreich und umfassen technische Ausfälle, Wetterphänomene oder Vorfälle auf einem Flug. In erster Linie müssen die Piloten die Gefahren rasch und sicher erkennen.
Teilweise sind die Gefahren vorbekannt, während andere plötzlich auftreten. Das Wetter kann heute ziemlich zuverlässig vorausgesagt werden. Um manche technische Einschränkung wissen die Piloten schon vor dem Flug, andere können aus dem Nichts in jeder beliebigen Phase eines Fluges entstehen.
2.2. Risiko
Zum einen ergibt sich das Risiko aus der Gefahr selbst. Kann man sie gut erkennen, während sie gleichzeitig nur geringe Folgen nach sich ziehen würde, so ist das mit ihr verbundene Risiko klein. Ein großes Risiko besteht allerdings schon alleine durch die Gefahr selbst, wenn die Konsequenzen potentiell fatal sind. So zum Beispiel bei einem technischen Defekt, der dazu führt, daß das Flugzeug kaum noch steuerbar ist.
Des weiteren ergibt sich das Risiko aus dem Umgang mit der Gefahr, d. h. daraus, wie die Piloten auf die Gefahr reagieren werden. Sie können ihr komplett ausweichen, Maßnahmen ergreifen, um das von ihr ausgehende Risiko zu verringern oder entscheiden, daß sie nichts unternehmen müssen.
2.3. Adäquate Einschätzung von Gefahr und Risiko
Sobald die Piloten eine Gefahr bemerken, müssen sie entscheiden, wie sie dieser begegnen werden. Die Einschätzung des mit einer Gefahr verbundenen Risikos hängt u. a. von der Erfahrung ab. Erfahrene Piloten haben sich mit so mancher Gefahr schon befaßt und wissen somit besser, welche Reaktion am besten ist.
Zudem haben sie durch ihr größeres Können mehr Möglichkeiten, einer Gefahr zu begegnen. Wie in allen Berufen, müssen erfahrene Fachkräfte darauf achten, nicht durch Selbstzufriedenheit ihre Sorgfalt beim Bewerten der Fakten zu verlieren. So mancher Neuling könnte ihnen dann aufgrund genau dieser Sorgfalt überlegen sein.
Ein persönlicher Hang zum Risikoverhalten kann die Einschätzung einer Gefahr und dem mit ihr verbundenen Risiko ebenfalls beeinflussen. Wie wir bereits im vorangegangenen Blogartikel beleuchtet haben, wurden fünf gefährliche Einstellungen in der Luftfahrt herauskristallisiert, die riskantes Verhalten nach sich ziehen.
2.4. Entscheidungsfindung für optimale Sicherheit
Nachdem die Piloten die Gefahr und die Risiken eingeschätzt haben, müssen sie über ihr Vorgehen entscheiden. Im ADM sollen Piloten ihre Entscheidungen bewußt und mit Hinblick auf den Stand ihres Wissens und Könnens fällen.
Obwohl natürlich die Sicherheit höchste Priorität hat, sollten die Piloten in ihre Entscheidung die Gesamtsituation mit einbeziehen. Ist ein Ausweichen auf einen anderen Zielflughafen wirklich nötig? Welche Konsequenzen hätte das für die Passagiere, aber auch wirtschaftlich?
Nachfolgend betrachten wir, wie die drei Checklisten mit den Akronymen PAVE, CARE und TEAM im gesamten Prozeß eingesetzt werden.
3. Piloten verwenden ausgefeilte Checklisten für die Sicherheit
Wie wir im letzten Artikel bereits erwähnt haben, wird ADM für alle Faktoren eingesetzt, die die Sicherheit eines Fluges beeinflussen können. Sowohl Berufspiloten wie auch private Piloten nutzen die Checkliste mit dem englischen Akronym PAVE, um reale oder potentielle Gefahren schon während der Planung ihres Fluges zu identifizieren.
Die zweite Checkliste, mit dem englischen Akronym CARE verwenden sie, um abzuschätzen, ob und in welchem Maß sie sich um die im ersten Schritt identifizierten Gefahren kümmern müssen, engl.: „Why must I CARE about these circumstances?“
Die dritte Checkliste mit dem englischen Akronym TEAM hilft den Piloten Gefahren und von ihnen ausgehende Risiken sicher zu handhaben.
3.1. Die Checkliste „PAVE“
Hier wiederholen wir noch einmal kurz ihren Inhalt. Piloten verwenden sie, um alles was ihren Flug beinflussen könnte, systematisch zu bewerten:
- P für „Pilot“, hier für den für den Flug verantwortlichen Piloten: Wissen und Können, aber auch physische und emotionale Verfassung
- A für „Aircraft“: Ist das Flugzeug geeignet für diesen Flug und technisch in dafür sicher ausreichendem Zustand?
- V für „enVironment“, engl. für Umgebung: schließt Wetter, Tageszeit und überflogenes Gebiet mit ein
- E für „External Pressures“, engl. für Druck von außen: z. B. Erwartungen anderer an die Piloten
Wir nehmen hier als Beispiel die Fatigue einer verantwortlichen Pilotin eines Linienfluges, die bei „P“ identifiziert wurde.
Das Flugzeug ist technisch in bestem Zustand und für den angestrebten Flug geeignet.
Es geht auf den Abend zu, das Wetter bietet gute Flugbedingungen.
Was den äußeren Druck anbelangt, so möchte die Pilotin am selben Tag noch ihren Heimatflughafen erreichen, weil sie am nächsten Tag eine wichtige Fortbildung hat. Zusätzlich spielt die Erwartungshaltung ihres Arbeitgebers eine wichtige Rolle.
3.2. Die Checkliste „CARE“
Mit der Checkliste „CARE“ schätzen Piloten die möglichen Konsequenzen der identifizierten Gefahren und der damit verbundenen Risiken ein. Wir setzen unten die unter „P“ identifizierte Gefahr Fatigue ein:
- C für „Consequences“: Welche Konsequenzen könnte es haben, wenn der Flug unter diesen Bedingungen angetreten wird?
- A für „Alternatives“: Welche Alternativen gibt es?
- R für „Reality“: Die tatsächliche Wahrscheinlichkeit für einen unerwünschten Ausgang des Fluges unter den gegebenen Bedingungen.
- E für „External Factors“: Inwieweit beeinflusst ein bestimmter externer Faktor nicht nur die Konzentration und die Fähigkeiten der Piloten, sondern gerade ihre Entscheidung?
Unter „Konsequenzen“ sind bei Fatigue der Pilotin z. B. zu nennen: Erhöhtes Risiko für potentiell schwerwiegende Fehler, mimimierte situative Aufmerksamkeit, beeinträchtigte Entscheidungsfindung.
Als Berufspilotin bieten sich ihr weniger Alternativen als einer Managerin mit privater Fluglizenz. Sie ist nicht nur durch ihren eigenen Zeitplan und Terminkalender angetrieben, sondern im wesentlichen durch die Fluglinie, die unter wirtschaftlichem Druck die Flüge nach Plan durchführen muß. Sie wird vermutlich nur bei ausgeprägter Fatigue von dem Flug zurücktreten.
In der Realität ist bei einer Fatigue die Wahrscheinlichkeit für einen folgenschweren Fehler und damit einen Vorfall oder Flugunfall erhöht. Die Pilotin muß ihren Zustand, aber auch die Bedingungen, die Länge des Fluges und Kenntnis der Route sowie ihre Erfahrung sicher einschätzen, um die Wahrscheinlichkeit zu beurteilen.
Der externe Faktor ist in unserem Beispiel der Druck durch die Fortbildung am nächsten Tag, die die Pilotin unbedingt besuchen möchte. Dieser Wunsch könnte ihre Entscheidung in Richtung Fliegen trotz Fatigue beeinflussen.
3.3. Die Checkliste „TEAM“
Mithilfe der Checkliste „TEAM“ wird das Team im Cockpit nun das Risiko handhaben:
- T für „Transfer“: Kann die Entscheidung auf jemanden anderen übertragen werden?
- E für „Elimination“: Kann die Gefahr komplett eliminiert werden?
- A für „Accept“: Kann man das identifizierte Risiko akzeptieren?
- M für „Mitigation“: Was kann ein Team tun, um das Risiko zu verringern?
Um die Entscheidung jemand anderem zu überlassen, könnte die Pilotin mit dem vorgesetzten Manager sprechen.
Die Gefahr könnte sie komplett eliminieren, indem sie von dem Flug zurücktritt.
Wenn die Pilotin alle Faktoren in den Listen bewertet hat, inclusive der Wahrscheinlichkeit für ein unerwünschtes Ereignis, kann sie sich dafür entscheiden, das Risiko zu akzeptieren. Je nach Grad der Fatigue, ihrer Erfahrung und ihres Durchhaltevermögens ist das die wahrscheinlichste Lösung. Der Druck, den Auftrag zu erfüllen, kommt noch hinzu.
Zur Verringerung des Risikos bietet sich die „Behandlung“ der Fatigue mit Kaffee und Energydrink an. Spaß beiseite. Auch wenn das z. B. bei vielen Mitarbeitern im Rettungsdienst verbreitet ist, so muß uns klar sein, daß ein Kaschieren der Symptome unser Problem nicht löst. In unserem Beispiel kann die verantwortliche Pilotin ihrem Copiloten z. B. Start und Landung übertragen, während sie selbst in diesen Phasen des Fluges das Funken und weitere Aufgaben übernimmt.
4. ADM in allen Phasen eines Fluges
4.1. Die Phasen eines Fluges
Nach den letzten Vorbereitungen und dem Zurückschieben des Flugzeuges rollen die Piloten zur Startbahn. Das mag unspektakulär erscheinen, doch schon hier müssen sie darauf achten, mit den Enden der Tragflächen nirgends anzuecken. Auch aktive Start-und Landebahnen müssen sie vorsichtig kreuzen.
Für den Start gibt es eigene Checklisten, da hier viel zu beachten ist. Es folgt der Steigflug, das Zurücklegen der Flugstrecke, der Sinkflug und die Landung. Sinkflug und Landung sind wiederum Flugphasen mit hoher Arbeitsbelastung. Nach der Landung muß das Flugzeug noch sicher zur entgültigen Parkposition gesteuert werden, wobei wieder dieselbe Vorsicht nötig ist wie beim Rollen zur Startbahn.
Die meisten Unfälle ereignen sich bei Start und Landung (23,4 respektive 24,1 %).
4.2. Beispiele für Gefahren und Risiken auf dem gesamten Flug
Exemplarisch nehmen wir uns im folgenden das Rollen zur Startbahn, den eigentlichen Flug und den Sinkflug vor.
Technische Probleme auf dem Weg zur Startbahn
Auf dem Weg zur Startbahn kommt es in seltenen Fällen vor, daß die Piloten einen technischen Defekt bemerken. Nun müssen sie schnell die Gefahr und das Risiko einschätzen und entsprechend handeln. Können sie trotzdem fliegen, da der Defekt den Flug nicht wesentlich beeinflussen wird? Oder müssen sie den Defekt abklären lassen? Dabei wird weiter entschieden, ob sofort repariert werden kann oder ein anderes Flugzeug verwendet werden muß.
Auf dem Flug durch die innertropische Konvergenzzone
Wenn auf einem Flug der Äquator überquert wird, so wird dabei auch eine Zone passiert, in der heftige Gewitter vorkommen können. Wenn die Piloten auf ihrem Weg solche Gewitter vor sich haben, müssen sie bestimmen, welche Gefahr von ihnen ausgeht und wie hoch das Risiko für ihre Maschine und damit die Sicherheit ihres Fluges ist. Sie entscheiden dann, um welche Gewitterzellen sie herumfliegen werden.
Sollen wir wie geplant landen?
Das Wetter kann sich am Zielflughafen erheblich verschlechtern, während die Piloten auf dem Weg dorthin sind. Welche Seitenwinde, Regenfälle und Gewitter können sie dort akzeptieren? Auch in einer solchen Situation müssen sie die Gefahr einschätzen und die Risiken abwägen. Könnte das Flugzeug von einer Windböe so erfaßt werden, daß sie dadurch von der Landebahn abkommen?
5. Im nächsten Blogartikel erarbeiten wir weitere Aspekte des ADM
Nachdem wir uns nun eingehend damit befaßt haben, wie Piloten ADM einsetzen, um das Risiko eines Fluges so gering wie möglich zu halten, werden wir uns im Mai weiteren Teilgebieten des ADM zuwenden. Wir gehen intensiv auf die Streßbewältigung ein, befassen uns mit der Rolle des Faktors Mensch und werfen einen ersten Blick auf die zunehmende Automatisierung in der Luftfahrt.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 25. April 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.