Wie Sie durch gekonnten Umgang mit unvermeidlichen und unnötigen Risiken die Sicherheit und den Erfolg Ihrer Arbeit maximieren, lesen Sie hier:
1. Manche Risiken lassen sich nicht wegrationalisieren
Bevor wir uns weiter unten damit befassen, wie wir die Risiken in Schach halten, müssen wir uns zunächst vor Augen führen, welchen Risiken wir ausgesetzt sind. Dabei werden wir sogleich sehen, daß diese gar nicht so wenige sind.
1.1. Unvermeidbare Risiken in der Luftfahrt
Alleine schon die Reiseflughöhe von 10 000 Metern und mehr stellt ein Risiko dar. Wenn ein technisches Problem auftritt, können die Piloten nicht kurzerhand rechts heranfahren, bremsen und das Fahrzeug sichern. Des Weiteren sind ungünstige Wetterbedingungen wie Gewitter, Starkregen und kräftige Windböen bei der Landung sowie dichter Nebel erhebliche Risiken.
Risiken betreffen aber auch das Flugzeug selbst, die Lage des Flughafens (z. B. nahe bei einer Metropole oder mitten in den Bergen) sowie die Verkehrsdichte im entsprechenden Luftraum. Auch die Piloten selbst bringen ihre Risiken mit an Bord, z. B. Streß sowie private und berufliche Belastungen, eventuell eingeschränkte Fitness und eingenommene Medikamente.
1.2. Risikoarbeitsplatz Rettungsdienst
Wie in der Luftfahrt auch, findet die Arbeit rund um die Uhr und bei jedem Wetter statt. Nebel oder Starkregen machen weder die ohnehin schon risikobehafteten Blaulichtfahrten noch den eigentlichen Einsatz einfacher, wenn sich dieser unter freiem Himmel abspielt.
Spezielle Einsatzorte, wie Baustellen, ungesicherte Unfallstellen oder unklare Lagen nach Anwendung von Gewalt bergen jeweils spezifische Risiken. Dazu kommen vermeintlich unspektakuläre Gegebenheiten wie enge und steile Treppen oder schlechte Lichtverhältnisse sowie Schmutz oder scharfkantige Metallteile an einem Schrottplatz.
Die Patienten selbst sind manchmal ebenfalls gefährdet, wenn sie beispielsweise im bewußtseinsgetrübten Zustand jederzeit erbrechen und aspirieren können. Kritische Zustände müssen wir ebenso beherrschen wie den Umgang mit Patienten, die sich selbst oder andere gefährden.
Nicht zuletzt bringt jeder im Rettungsteam seine eigenen Risiken mit. Dies kann ein momentan gestörter Schlafrhythmus sein, der den Einsatz mitten in der Nacht, nach erneuter Unterbrechung der Tiefschlafphase, nicht gerade erleichtert.
In unserer Arbeit suchen wir nicht das Risiko, sondern wir haben ein höherwertiges Ziel. Auf dem Weg dorthin begegnen wir unvermeidlichen Risiken. Wir sind uns dessen bewußt und halten diese so klein wie möglich.
2. Vermeidbare Risiken
Wissen, Können und Einstellung benötigen wir im Rettungsdienst auch, um vermeidbare Risiken sicher zu umgehen. Für die Themen der beiden folgenden Abschnitte ist vor allem die Einstellung zum Risikoverhalten besonders wichtig.
2.1. Erkennen von Risikoverhalten
Die fünf gefährlichen Einstellungen in der Luftfahrt
Durch Studien wurden fünf verschiedene Einstellungen herausgearbeitet, die Entscheidungen beeinflussen und somit zu fatalen Konsequenzen führen können. Dazu wurden einfache Sätze als sogenannte Gegenmittel erarbeitet.
Piloten werden darauf trainiert, diese fünf Einstellungen in ihren Überlegungen zu einer bestimmten Situation zu erkennen, um sie zu vermeiden. Wenn nötig, sollen sie sich bewußt an das Gegenmittel erinnern.
Wir betrachten die fünf gefährlichen Einstellungen nachfolgend, samt ihrer Gegenmittel:
Antiautoritäre Einstellung
Manche Menschen mögen keine Vorschriften oder daß man ihnen sagt, was zu tun ist. Es ist jedoch wichtig, Regeln zu hinterfragen, die offenkundig falsch sind. Gegenmittel: Befolge die Regeln, sie sind üblicherweise richtig.
Impulsivität
Manche spüren häufig den Impuls, etwas sofort und ohne nachzudenken tun zu müssen. Dabei wird das Erste getan, das in den Sinn kommt. Gegenmittel: Nicht so schnell. Denke zuerst.
Unverwundbarkeit
Die Unfälle passieren den anderen, nicht mir. Diese Menschen wissen, daß sich tödliche Flugunfälle ereignen. Doch sie blenden konsequent aus, daß sie selbst in einen involviert werden könnten. Gegenmittel: Es könnte mir passieren.
Macho
Manche Piloten denken, sie sind besser als so mancher glaubt. Das wollen sie durch riskantes Verhalten einerseits sich selbst beweisen, andererseits andere damit beeindrucken. Entgegen der üblichen Annahmen sind Pilotinnen davon genauso betroffen. Gegenmittel: Es ist dumm, Risiken einzugehen.
Resignation
Manche Piloten denken, daß die Dinge durch äußere Umstände geschehen oder daß andere einschreiten sollen. Sie fühlen sich machtlos und glauben, daß sie mit ihrem Handeln keinen Unterschied machen können. Gegenmittel: Ich bin nicht hilflos. Ich kann einen Unterschied machen.
2.2. Das berühmte Schmälern der Sicherheitssäume
Sicherheitssäume sind im Rettungsdienst etabliert
Sicherheitssäume schaffen wir uns auf vielfache Weise. Dies beginnt bei der persönlichen Schutzausrüstung. Es geht um unsere Sicherheit, wenn wir Jacken und Hosen mit entsprechenden Leuchtstreifen und geschlossene Sicherheitsschuhe mit speziellen Sohlen u. a. m. tragen. Sie ahnen nicht, wieviele Kollegen diese Standards vernachlässigen.
Sicherheitssäume schaffen auch mehrfach vorgehaltene Verbrauchsmaterialien. Zum Beispiel haben wir mehrere Ampullarien mit derselben Ausstattung dabei, für den Fall, daß es mehrere Folgeeinsätze oder einen Massenanfall von Verletzten gibt.
Sicherheit bietet uns auch unser Wissen und Können. Beides müssen wir konsequent trainieren, um es aktuell zu halten. So verringern wir das Risiko, im Einsatz durch mangelnde Fähigkeiten unter Streß zu geraten und Fehler zu machen.
Warum neigen wir dazu, Sicherheitssäume zu schmälern?
Die Liste der Sicherheitssäume und der Möglichkeiten, diese zu schmälern, ist lang. Wenn wir zu lange die Erfahrung machen, daß wir uns mit mangelndem Wissen und suboptimal instand gehaltener Ausrüstung ohne Folgen durch die Einsätze hangeln können, lassen wir es aus Bequemlichkeit sein, unsere Sicherheitssäume aktiv zu achten.
Wenn wir so handeln, verlieren wir den Respekt vor den Risiken, vor welchen uns unsere Sicherheitssäume bewahren.
Wenn wir unser Urteilsvermögen und unseren Fleiß verlieren, laufen wir Gefahr, das solange fortzusetzen, bis wir genau das Können brauchen, das wir lange nicht trainiert haben, den Ausrüstungsgegenstand benötigen, den wir nicht aus den Rettungsfahrzeugen zum Einsatzort mitgenommen haben, uns mit offenen Schuhen an einer Böschung gehörig das Fußgelenk verstauchen oder mit inadäquatem Schuhwerk in einen spitzen Gegenstand treten.
Sicherheitssäume werden einerseits durch Bequemlichkeit verletzt, andererseits durch das Unvermögen, pures Glück von wirklichem Wissen und Können unterscheiden zu können.
3. Risikomanagement innerhalb des CRM
3.1. Risikomanagement als Teilgebiet des Managements von Fehlern und Bedrohungen
Es ist sinnvoll, das Risikomanagement im CRM-Unterricht dem Kapitel über das Management von Fehlern und Bedrohungen zuzuschlagen. Zunächst müssen wir Fehler und Bedrohungen definieren und auf deren mögliche Wechselbeziehung eingehen.
Fehler
Wir sehen Fehler als Ergebnis, wenn jemand tatsächlich etwas verkehrt gemacht oder etwas falsch kommuniziert hat.
Bedrohungen
Bedrohungen kommen von außen, ohne daß ein Fehler vorliegt. Wir können manche vorhersehen, wie z. B. ungünstige Wetterverhältnisse in der Luftfahrt, während andere unerwartet auftauchen.
Wechselbeziehungen zwischen Fehlern und Bedrohungen
Bedrohungen verkomplizieren die Lage, was wiederum zu Fehlern führen kann. Andererseits kann sich ein Fehler zu einer Bedrohung für das betroffene Team selbst oder für andere entwickeln.
Risiken, Fehler und Bedrohungen
Risiken stellen einerseits Bedrohungen dar, aus welchen auch Fehler resultieren können. Zusätzlich machen wir durch den Streß, den ein Risiko uns bereitet, leichter Fehler.
3.2. Diese CRM Prinzipien setzen wir aktiv ein
Situative Aufmerksamkeit
Wenn wir auf unser Team, den Patienten, die Angehörigen, aber auch alle Informationen, die uns die Gesamtsituation liefert, bewußt und konsequent achten, erkennen wir die Risiken darin umso wahrscheinlicher und auch früher.
Gemeinsames mentales Modell von der Situation
Stets im Einsatz ist es wichtig, daß alle Teammitglieder genau wissen, worum es geht. Dies gilt für die Arbeitsdiagnose und die geplante Therapie genauso, wie für eine möglicherweise riskante Situation.
Sollte zum Beispiel ein Einsatz durch Androhung von oder tatsächlich beginnende Gewalt unmöglich werden, müssen wir uns rasch gemeinsam zurückziehen, notfalls ohne unsere Ausrüstung. Dabei dürfen wir niemanden zurücklassen, der zum Beispiel gerade noch konzentriert Medikamente vorbereitet hatte.
Kommunikation und Speak up
Riskante Aspekte einer Situation müssen wir als Team klar kommunizieren, damit sich alle darüber im Klaren sind und verstehen, was wir tun werden. Selbstverständlich muß jedes Teammitglied aktiv auf potentielle Risiken hinweisen. Alle übrigen sollten diese Information ernstnehmen und gemeinsam evaluieren, was möglicherweise extrem schnell geschehen muß.
Entscheidungsfindung und Festsetzen der Ziele
Gerade unter Streß haben sich Entscheidungshilfen bewährt, wie zum Beispiel FOR-DEC (aus dem Eglischen: facts, options, risks and benefits, decision, execution, check). Sicher und strukturiert legen wir damit Ziele und die Schritte dorthin fest, auch in einer risikobehafteten Lage.
4. Ausgefeilte Konzepte in der Luftfahrt
Die verschiedenen Ursachen von Risiken und Gefahren sowie potentielles Risikoverhalten wurden im Laufe der Jahre eingehend analysiert. Um sie erfolgreich in Schach zu halten, werden in der Luftfahrt ausgefeilte Techniken eingesetzt.
4.1. Das Spezialgebiet Entscheidungsfindung in der Luftfahrt
Nicht nur die amerikanische Luftfahrtbehörde Federal Aviation Administration, FAA, behandelt den Umgang mit Risiken als Teilgebiet der Entscheidungsfindung in der Luftfahrt. Auf Englisch heißt es aeronautical decision-making, ADM, und wird in einem eigenen Handbuch der Behörde ausführlich beschrieben.
4.2. Maßnahmen zum Umgang mit Risiken
Piloten stehen verschiedene Checklisten zur Verfügung, mit welchen sie jedes einzelne Risiko und drohende Gefahren für sich bewerten können. Dies fängt bei ihrem eigenen Gesundheitszustand an und geht über den Zustand des Flugzeuges und alle äußeren Umstände bis hin zu Faktoren, die sie unter Druck setzen. Die genannten Punkte finden sich in der Checkliste mit dem englischen Akronym PAVE, die wir uns hier exemplarisch ansehen wollen:
- P für Pilot-in-command, also für den Piloten, der für den Flug verantwortlich ist
- A für Aircraft: hier geht es um alle Punkte, die das Flugzeug selbst betreffen, von technischen Details bis zu der Frage, ob dieses Flugzeug für den geplanten Flug geeignet ist (Reichweite, Länge der Landebahn, etc.)
- V für enVironment: hier werden alle Umstände bewertet, angefangen beim Wetter, bis hin zum überflogenen Gelände und der Tageszeit
- E für External pressures: z. B. Erwartungen, die Piloten an sich selbst oder andere an sie haben, Zeitdruck
Wenn die Piloten alle riskanten Faktoren bezüglich ihrer Gefährlichkeit bewertet haben, verwenden sie weitere Checklisten. Mithilfe dieser entscheiden sie, wie sie mit den Risiken umgehen, um die Sicherheit ihres Fluges zu optimieren.
5. Welche Risiken birgt Ihre Arbeit?
5.1. Welche Risiken können Sie identifizieren?
Betrachten Sie nun Ihren eigenen Arbeitsplatz und Ihre Arbeit in ihrer Gesamtheit. Gibt es spezielle Risiken? Mit welchen davon haben Sie sich schon lange befaßt?
Wenn Sie wünschen, schreiben Sie sich systematisch auf, welche Risiken Sie feststellen und wodurch diese bedingt sind. Je nach Arbeitsplatz können dies Verletzungsrisiken und Unfälle sein, aber auch fehlerhaft abgelieferte Arbeiten, die andere in Gefahr bringen könnten.
5.2. Was ist schon etabliert und was wollen Sie zusätzlich unternehmen?
Welche Maßnahmen haben Sie bereits erfolgreich etabliert? Welche könnten Sie nach dieser Lektüre zusätzlich anfügen? Ganz unabhängig davon, in welchem Fachbereich Sie tätig sind, wünsche ich Ihnen allzeit möglichst risikoarmes und erfolgreiches Arbeiten!
6. Blog im April und Mai: Entscheidungsfindung in der Luftfahrt
Wir haben oben die Bedeutung der Entscheidungsfindung in der Luftfahrt im Zusammenhang mit der Einschätzung von und dem Umgang mit Risiken kennengelernt. Im nächsten Blogartikel werden wir beginnen, uns eingehender damit zu befassen. Hierbei werden wir zuerst den Umgang mit Risiken in der Luftfahrt vertiefen, bevor wir im Mai weitere Aspekte des ADM erörtern.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 31. März 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.