Über den sinnvollen Einsatz von Automation sowie Vor- und Nachteile in Luftfahrt und Medizin, lesen Sie hier:
1. Selbstbestimmte Nutzung der Automation
Zunächst setzten viele Fluglinien darauf, daß ihre Piloten die zu einem hohen Maß verfügbare Automation nutzten, wann immer es möglich war. Nun setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, daß diese nicht ausschließlich verwendet werden sollte. Wie Sie im letzten Artikel bereits lesen konnten, geht vielmehr darum, sich ihrer gekonnt zu bedienen, was bedeutet:
Genau zu wissen, was man wann, zu welchem Grad und mit welchem Nutzen für die Verringerung der Arbeitsbelastung und Maximierung der Sicherheit einsetzen will.
Durch manuelle Arbeit und aktives Durchdenken von Prozessen gelingt es, die durch hartes Training perfektionierten Fertigkeiten zu erhalten.
Über diesem beginnenden Paradigmenwechsel in der Luftfahrt können Experten auf anderen Gebieten nachdenken. Zusätzlich dürfen wir auf Leistungen und Können, die auf jahrelangem Üben und Lernen beruhen, zu Recht stolz sein. Sie sind ein Teil unserer Identität und eine Triebfeder unserer Motivation.
Auch werden die praktischen Fähigkeiten mitunter rasch benötigt, wie wir im Juli in einem konkreten Fall betrachten werden. Doch nun wollen wir zuerst ansehen, wie es im modernen Cockpit zugeht.
2. Der Arbeitsplatz Cockpit heute
Gehörte in den 1970er Jahren noch ein Maschinist zu einer Cockpit Crew, ebenso wie in noch früheren Jahren ein Navigator, so sind heute nur noch zwei Piloten mit einem Flug betraut. Auf Langstrecken können dies auch drei sein, sodaß Ruhezeiten möglich sind.
Bevor sie ihre Arbeit im Cockpit aufnehmen, planen Piloten ihren Flug und geben die Daten später in das Flugmanagementsystem ihrer Maschine ein. Auf dem größten Teil des Fluges wird nun, unter Einbindung des Autopiloten, der automatischen Schubregelung, Navigationshilfen sowie weiterer Systeme, das Flugzeug automatisch gesteuert.
Dies bedeutet, daß Computer die Höhen-, Seiten- und Querruder ansteuern, um die Maschine auf dem vorgewählten Kurs zu halten. Die Piloten überwachen den Flug und holen nach und nach akutalisierte Informationen ein, zum Beispiel über das Wetter oder den Zielflughafen.
Inwieweit entsprechen die heutigen Anforderungen der menschlichen Natur? Worin liegen die Vorteile und die Schwierigkeiten, die die Automation mit sich bringt? Einige Antworten auf diese beiden Fragen folgen in den nächsten beiden Unterkapiteln.
3. Worin sind Menschen besser als Maschinen, was liegt ihnen nicht?
3.1. HABA-MABA
„Humans are better at“ und „machines are better at“, kurz HABA-MABA: Mit einer Auflistung der entsprechenden Überlegenheiten veröffentlichte Fitts im Jahre 1951 Gedanken zur Automation. Initial strebte man bei dieser den Ersatz des Menschen durch Maschinen an.
„Humans are better at“, die Fähigkeiten der Menschen:
- die Fähigkeit, auch kleine Mengen an visueller und akustischer Energie wahrzunehmen
- die Fähigkeit, Muster von Licht und Schall zu erkennen
- die Fähigkeit zu improvisieren und flexible Verfahren anzuwenden
- die Fähigkeit sehr große Mengen an Informationen über lange Zeiträume zu speichern und die relevanten Fakten zur rechten Zeit zu erinnern
- die Fähigkeit, induktive Denkansätze zu nutzen
- die Fähigkeit zur Beurteilung
„Machines are better at“, was Maschinen können:
- sie reagieren rasch auf Kontrollsignale und können große Kräfte gleichmäßig und präzise ausüben
- sie erledigen repetitive Routinearbeiten
- sie speichern Informationen kurzfristig und können sie danach komplett löschen
- sie arbeiten deduktiv und können berechnen
- sie führen hochkomplexe Operationen aus und können viele verschiedene Dinge auf einmal tun
3.2. Entweder-Oder?
Der oben dargestellte HABA-MABA Ansatz wurde seitdem in mehreren Publikationen aufgegriffen, z. B. von Bradshaw, Filtovich und Johnson (2017). Die Autoren beschreiben, daß die Herausforderung nicht nur darin liegt, Mensch oder Maschine eine bestimmte Aufgabe zuzuweisen.
Zum einen sind für eine Reihe von Aufgaben beide geeignet. Zum anderen braucht man den Menschen für die Überwachung der automatisierten Systeme und zwar umso mehr, je komplexer diese sind.
Insgesamt gilt es, eine flexible Arbeitsaufteilung zwischen Mensch und automatisierten Systemen zu fördern sowie die Schnittstellen für die Interaktion zwischen beiden zu optimieren. Auch spielt die eingangs schon erwähnte Wahlmöglichkeit bei dieser Aufteilung eine Rolle.
3.3. Die Relevanz menschlicher Fähigkeiten und Beobachtungen beim Einsatz von Automation
Automation verändert die Arbeit
Wird von Automation Gebrauch gemacht, so verändert sie die menschliche Arbeit. Die Menschen müssen nun die automatischen Systeme überwachen, anstatt selbst zu handeln. Dieses Überwachen liegt dem Menschen von Natur aus nicht besonders, vor allem nicht über längere Zeiträume.
Es stellt sich in der Zusammenschau die Frage, wieviel Beachtung HABA-MABA heute findet, wenn in einem Fachgebiet Prozesse automatisiert werden. Inwiefern beziehen Entscheider die Überlegungen von Bradshaw, Filtovich und Johnson mit ein? Werden die Menschen an den betroffenen Arbeitsplätzen dazu befragt, wie man die Arbeitsprozesse am besten gestalten sollte?
Manuelle Fertigkeiten in den Produktionshallen von Toyota
Mitsuru Kawai, zu der Zeit leitender Angestellter für Technik beim Automobilhersteller Toyota, sprach sich 2015 explizit dafür aus, manueller Arbeit auch in modernen Fabriken nach wie vor einen Platz einzuräumen, was absolut bemerkenswert ist. In einem Artikel der „Consumer Goods and Retail“, vom 27. März 2015, finden sich die folgenden Zitate, die seine Beweggründe verdeutlichen:
“Today’s automation is the result of quantifying, standardising and building in the exceptional skills that people honed by hand”, und “to keep building better cars, we have to take our manual skills to the next level. Machines can’t train machines.”
Kawais Ansicht nach sollten Arbeiter an den Fertigungsstraßen gut ausgebildet sein und nicht nur als „menschliche Roboter“ Teile von einer Maschine in die nächste befördern. Vielmehr sollten sie Schwachstellen im Fertigungsprozeß erkennen und über Verbesserungen nachdenken.
4. Vor- und Nachteile der Automation im Cockpit
Neben einigen Vorteilen brachte die Automation auch eine Reihe von teils unvorhergesehenen Schwierigkeiten mit sich. Wir können aufgrund der Vielzahl hier nicht auf alle eingehen. Es wird international daran gearbeitet, diese in den Griff zu bekommen.
4.1. Dabei hilft die Automation
- die Flugmanoeuver gelingen computergesteuert eleganter, was den Komfort für die Passagiere steigert
- die Automation übernimmt repetitive Aufgaben
- wenn das Flugmanagementsystem die Strecke in Reiseflughöhe überwacht, sinkt die Arbeitslast der Piloten, und sie haben Kapazitäten für andere Aufgaben zur Verfügung
4.2. Eine Auswahl der identifizierten Schwierigkeiten
Programmierung des Flugmanagementsystems und Überwachung
Wie oben erwähnt, sind Menschen nicht besonders gut darin, automatisierte Prozesse zu überwachen. Das ändert sich auch nicht, wenn es um einen Flug mit mehreren hundert Passagieren an Bord geht.
Die Automation muß bedient werden, u. a. müssen Daten über eine Tastatur eingegeben und ausgewählt werden. Dies steigert die Arbeitsbelastung, insbesondere dann, wenn die Eingaben kurzfristig gemacht werden müssen, wie beispielsweise bei der Zuweisung einer neuen Landebahn.
Bei der jetzt anfallenden Programmierung können schon aufgrund der Eile Fehler passieren. Zusätzlich ist die situative Aufmerksamkeit der Piloten verringert. Es kann dazu kommen, daß sie nun die Köpfe senken, um ihre Geräte zu bedienen, und niemand mehr aus dem Fenster sieht, was vor allem in Lufträumen mit hohem Flugverkehrsaufkommen die Unfallgefahr erhöht.
Probleme bei der Interaktion zwischen Piloten und Automation
Gerade bei diesem Punkt wurden etliche Schwierigkeiten entdeckt. Exemplarisch sei genannt, daß zuweilen der Auswahl der verschiedenen Flugmodi, deren Anzeige im Display und damit verbundenen Kommandos mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als zum Beispiel Werten, die die Position des Flugzeuges oder die momentane Schubkraft anzeigen. Somit beschäftigen sich Piloten in der Situation mehr damit, die Automation zu bedienen als ihr Flugzeug auf seinem Kurs zu überwachen.
Nachlassende Aufmerksamkeit und Abhängigkeit von der Automation
Insgesamt verringert die Automation die Arbeitsbelastung, doch die Piloten sind somit auch weniger in ihren Flug involviert. So kann es kann geschehen, daß sie, wenn sie ausschließlich mit automatischer Schubregelung fliegen, übersehen, ihre Geschwindigkeit regelmäßig zu überprüfen. Auch drastische Veränderungen derselben können ihnen damit erst spät auffallen.
Piloten zeigen eine Abhängigkeit von der Automation, wenn sie den Verlauf ihres Fluges nicht kontrollieren können, ohne alle verfügbaren Systeme aktiviert zu haben. Dies beruht üblicherweise auf einer Kombination aus mangelndem Verständnis der einzelnen Systeme und bereits verschlechterten cognitiven und manuellen Flugfertigkeiten. Diese Abhängigkeit kann bei Systemauasfällen fatale Konsequenzen haben.
5. Automation in der Medizin und der Blick auf den Patienten
In der Strahlentherapie und in der Notfallmedizin wird heute modernes Gerät eingesetzt. Was bedeutet das für unsere Aufmerksamkeit gegenüber unseren Patienten und unseren Blick für sie?
5.1. Autosequenzen am Linearbeschleuniger
Ein Therapieplan aus mehreren Feldern
Zur Bestrahlung von Tumoren werden Patienten u. a. an einem Linearbeschleuniger behandelt. Ein Therapieplan setzt sich aus mehreren Feldern zusammen, die das zu bestrahlende Volumen aus mehreren Richtungen kommend einfassen. Dadurch und durch weitere Maßnahmen der modernen, computergestützen, dreidimensionalen Bestrahlungsplanung wird das umliegende Gewebe bestmöglich geschont.
Ablauf der Bestrahlung früher und heute
Noch bis in die 2000er Jahre hinein mußten die MTAR jedes einzelne dieser Felder direkt am Beschleuniger einstellen und zusätzlich noch sogenannte Bleiblöcke, die die Form des zu bestahlenden Volumens hatten, zum Schutz des gesunden Gewebes in der richtigen Richtung auf einer Halterung in den Strahlengang stellen.
Heute wird dagegen der gesamte Bestrahlungsplan mit all seinen Feldern mithilfe direkt im Gerät befindlicher Bleiabdeckungen, die sich beliebig konfigurieren lassen, in einer sogenannten Autosequenz appliziert. Je nach Anzahl dieser Felder kann dies bis zu zehn Minuten dauern. Den MTAR erspart das viele Handgriffe, ständiges Laufen und das Heben der schweren Bleiblöcke.
Fehler kann man bei beiden Methoden machen. Direkt am Gerät kann man ein Feld falsch konfigurieren. Bei der Eingabe des Bestrahlungsplanes an einem modernen Linearbeschleuniger können verkehrte Angaben zu einem Feld gemacht werden oder gleich ein falscher Plan eingegeben werden. Das kann insbesondere dann passieren, wenn ein Patient zwei Pläne hat, wobei die Felder im zweiten verkleinert werden.
Der Blick auf den Patienten
In früheren Zeiten waren die MTAR für die Einstellung jedes einzelnen Feldes beim Patienten im Raum, während der Patient heute während der gesamten Zeit alleine ist und nur noch durch die Videokamera von außen überwacht wird.
Es ist zu beobachten, daß der Blick auf die Monitore, die den Patienten zeigen, manchmal vernachlässigt wird. Das kann fatal sein, da nicht jeder Patient ruhig liegenbleibt. Doch sollten plötzliches Unwohlsein sowie Bewegungen vom Patienten rasch registriert werden.
Der Effekt der Automation auf unser Wissen
Früher wußten alle angehenden Strahlentherapeuten und MTAR, warum die Felder wie konfiguriert sind und konnten sich die Felder samt Blöcken dreidimensional vorstellen. Solches Wissen gerät heute ins Hintertreffen, da sowieso alles der Computer erledigt.
Für eine gute Planung und Ausführung der Therapie, inclusive Beurteilung der Feldkontrollaufnahmen, mit welchen der korrekte Sitz der Felder in bezug auf den Körper überprüft wird, ist es jedoch essentiell, die Geometrie und Physik vollkommen verstanden zu haben.
5.2. Der Patient ist monitorisiert
Nicht ganz so intensiv wie während einer Narkose wird ein Patient auch im Rettungswagen bezüglich bestimmter Vitalparameter, wie Blutdruck, Herzfrequenz und Sauerstoffsättigung im Blut überwacht, was natürlich sehr praktisch und auch relevant ist.
Dennoch gilt es zum einen nun, die regelmäßig erhobenen Werte wirklich aktiv wahrzunehmen, Schlüsse zu ziehen und Veränderungen früh zu erkennen. Des weiteren ist es wichtig, die Werte mit der klinischen Präsentation des Patienten zu korrelieren. Warum fällt plötzlich die Sauerstoffsättigung ab?
Es gibt dafür viele Ursachen, von echtem Abfall, über die Blutdruckmessung am selben Arm, an dem sich der Fingerclip zur Sauerstoffmessung befindet, bis hin zu technischen Fehlern. Während junge Sanitäter sich manchmal nur auf den Wert fixieren, sollte man als erstes auf den Patienten blicken und nachsehen, ob sich z. B. seine Atmung verschlechtert hat.
5.3. Trotz technischer Verfahren dürfen wir Anamnese und Untersuchung nicht verlernen
Auch heute geht es immer noch um den Patienten als Menschen, mit dem wir zuerst das Gespräch führen. Durch eine gute Anamnese lassen sich schon 80% der Diagnosen stellen oder mindestens sehr wahrscheinliche Verdachtsdiagnosen aufstellen. Gute klinische Untersuchungstechniken sollten wir nicht verlernen und die Ergebnisse mit unserer Anamnese korrelieren.
Erst dann sollten wir über die notwendigen technischen Untersuchungen nachdenken, welche uns heute, im richtigen Maß und mit der richtigen Fragestellung eingesetzt, wertvolle Dienste leisten. Mit den Ergebnissen dieser Untersuchungen, in der Zusammenschau mit Anamnese und klinischen Befunden, werden wir zusammen mit unserem Patienten die Therapieoptionen besprechen.
6. Im nächsten Artikel: Manuelle Fertigkeiten plötzlich gefragt
Im Juli werden wir uns mit einem Fall befassen, in welchem die Piloten ihre manuellen Flugfertigkeiten unvermittelt nutzen mußten, noch dazu in in einer Situation, die sie offenkundig gehörig erschreckt und verwirrt hatte. Wie das ausging und wieviele Faktoren an dem Geschehen beteiligt waren, werden wir Schritt für Schritt erarbeiten.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 28. Juni 2023
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