Über die Entscheidungsfindung in der Luftfahrt in bezug auf den Faktor Mensch, Streß und Automation lesen Sie hier:
1. Der Faktor Mensch
Unter dem Begriff „Faktor Mensch“ werden unsere menschlichen Schwächen zusammengefaßt, aufgrund derer wir immer wieder Fehler machen, auch wenn wir gut ausgebildet und erfahren sind. Eine sehr bekannte Zusammenstellung einzelner menschlicher Faktoren ist das sogenannte „schmutzige Duzend“.
1.1. Der Faktor Mensch wird in der Luftfahrt intensiv und multidisziplinär erforscht
Nicht nur an Fehlern, die beim eigentlichen Fliegen geschehen, ist der Faktor Mensch zu mindestens 70% beteiligt, sondern auch an solchen, die während der Flugzeugwartung und in der Flugaufsicht gemacht werden.
Daher arbeitet zum Beispiel die amerikanische Luftfahrtsaufsichtsbehörde FAA eng mit Piloten, Technikern, Ingenieuren, aber auch Fluglotsen zusammen, um die Sicherheit im jeweiligen Arbeitsbereich – und damit diejenige eines Fluges insgesamt – kontinuierlich zu erhöhen. Des weiteren arbeiten Spezialisten auf so unterschiedlichen Gebieten wie Psychologie, Industriedesign sowie Maschinenbau und Technik zusammen.
1.2. Ziele der Forschung und Umsetzung am Arbeitsplatz
Das erklärte Ziel der Arbeiten ist es, den Faktor Mensch und seine Einflüsse sowie die menschlichen Fähigkeiten und Limitationen immer besser zu verstehen. Mit diesen Erkenntnissen werden einerseits Mechanismen erarbeitet, die den Einfluß des Faktors Mensch reduzieren. So wird allein dem Mangel an Teamarbeit mit zahlreichen Prinzipien des CRM begegnet.
Andererseits werden die Forschungsergebnisse dazu genutzt, die Arbeitsplätze der Piloten, Flugzeugtechniker und der Flugaufseher mit dem Ziel zu gestalten, daß diese daran so bequem und sicher wie möglich arbeiten können.
Wenn die Piloten gut sitzen, alle Hebel und Schalter einfach bedienen sowie die Anzeigen auf verschiedenen Instrumenten auf einen Blick unmißverständlich ablesen können, haben sie ihre Konzentration und Aufmerksamkeit für ihre eigentlichen Aufgaben zur Verfügung.
2. ADM minimiert den Einfluß des Faktors Mensch
Mit verschiedenen Werkzeugen, die wir nachfolgend zusammengefaßt betrachten werden, hilft die Anwendung von ADM Piloten, Entscheidungen zu treffen, die den Einfluß des Faktors Mensch, aber auch von riskantem Verhalten, reduzieren.
2.1. Einige Werkzeuge des ADM
SRM, engl. Single-Pilot Resource Management
SRM ist im privaten Luftverkehr von Bedeutung. Hier muß häufig ein einzelner Pilot alle Resourcen geschickt nutzen. Dazu zählen diejenigen an Bord und diejenigen außerhalb seiner Maschine, z. B. die Flugaufsicht oder Informationen zu Wetterveränderungen.
Des weiteren gehören zum SRM alle Konzepte des ADM, Aufgaben- und Risikomanagement, aber auch die situative Aufmerksamkeit. Insgesamt dient SRM Piloten dazu, Informationen zu sammeln, die Fakten zu analysieren und die für ihren Flug richtigen Entscheidungen zu treffen.
Die „5 Ps“: Pilot, Plan, Passagiere, das Flugzeug (engl. plane), Programmierung
Die „5Ps“ sind eine Möglichkeit für Piloten, SRM praktisch und strukturiert anzuwenden. Zu jedem einzelnen P existieren Chancen und Risiken, die die Piloten zu festen Zeitpunkten nacheinander evaluieren sollten, um dann Entscheidungen zu treffen.
Als feste Zeitpunkte zum Durchgang aller „5Ps“ bieten sich die Flugplanung, der Moment unmittelbar vor dem Start, die Mitte des Fluges und der Moment vor dem Sinkflug an. Noch vor dem Start können Piloten festlegen, wieviel der Programmierung u. a. ihres Autopiloten sie vor dem Flug und in Phasen mit wenig Arbeitsbelastung erledigen werden.
Die „3 Ps“: Das „Perceive, Process, Perform Model“ (wahrnehmen, verarbeiten, ausführen)
Dieses einfache Modell wenden Piloten folgendermaßen an:
- Perceive, wahrnehmen: jeglicher Umstand vor oder auf einem Flug wird bewußt bezüglich der damit verbundenen Gefahren und Risiken wahrgenommen
- Process, verarbeiten: die Piloten analysieren die Situation und entscheiden, ob sie etwas unternehmen müssen und wie sie in dem Fall vorgehen werden
- Perform, ausführen: die Piloten führen die bestmöglichen Handlungen aus
Für die „3Ps“ werden die Ihnen aus dem vorangegangenen Artikel schon bekannten Checklisten verwendet:
- Perceive: „PAVE“: Pilot, Aircraft, enVironment, External Pressures
- Process: „CARE“: Consequences, Alternatives, Reality, External Factors
- Perform: „TEAM“: Transfer, Eliminate, Accept, Mitigate
2.2. Konkrete Anwendung von ADM auf einzelne Mitglieder des „schmutzigen Duzends“
Zusätzlich können Piloten mithilfe der strukturierten Einzelkomponenten des ADM einigen menschlichen Faktoren begegnen. Exemplarisch werden wir uns die folgenden ansehen:
- Ablenkung: Die Strukturen zur Entscheidungsfindung und die Checklisten helfen, konzentriert zu bleiben. Wurde man unterbrochen, sollte man bei Wiederaufnahme der Arbeit im Konzept oder bei der Checkliste drei Punkte zurückgehen, um sicherzugehen, daß man keine wesentlichen Schritte ausläßt.
- Mangel an Resourcen: Mithilfe von z. B. „PAVE“ fallen auch mangelnde Resourcen auf. Nun muß die Crew entscheiden, wie sie weiter vorgehen wird.
- Druck: Teil der Checkliste „PAVE“ ist external pressures, Druck von außen. Das Team erarbeitet also, welche Faktoren Druck ausüben und wie es diesen begegnen wird.
- Mangelndes Durchsetzungsvermögen: Mittels „PAVE“, „CARE“ und „TEAM“ können Piloten Bedenken zu einzelnen Aspekten konstruktiv äußern und eine Lösung finden.
3. Wie hilft ADM bei Streß?
Bevor wir uns ansehen, wie Piloten ADM bei Streß einsetzen, erörtern wir, welche Arten von Streß es gibt und welche Stressoren in der Luftfahrt relevant sind.
3.1. Guter und schlechter Streß, zuviel und zuwenig zu tun
Der sogenannte Eustreß ist ein gesundes Maß an Streß, das uns hilft, uns auf eine Aufgabe zu konzentrieren und diese stringent zu erledigen. Dysstreß ist dagegen belastender Streß, der uns daran hindert, optimal zu arbeiten. Mit zunehmender Streßintensität steigt unsere Leistungsfähigkeit bis zu einem gewissen Punkt an, bevor sie nach Überschreiten dieses Punktes rapide abfällt.
Jeder von uns weiß, wie stressig es ist, zuviel zu tun zu haben und nicht zu wissen, wie wir allen Aufgaben gleichermaßen gerecht werden sollen. Seltener denken wir darüber nach, daß auch zuwenig zu tun die Menschen in Streß versetzt. Haben wir keine Aufgaben und nicht genügend, womit wir uns befassen können, so wird uns langweilig. Wir werden selbstgefällig und können daher bei dem wenigen, das zu tun ist, Fehler machen.
3.2. Stressoren kommen aus der Umwelt oder sind physischer und psychologischer Natur
Stressoren aus der Umwelt
Während eines Fluges gibt es besondere Stressoren, wie die intensive Sonneneinstrahlung in das Cockpit und die Strahlenbelastung in der Höhe. Das Flugzeug selbst liefert mit Vibrationen und dem Lärm der Triebwerke weitere Stressoren. Die Luft ist im Cockpit und in der Kabine extrem trocken und der Sauerstoffgehalt vermindert, entsprechend dem auf über 2000 Meter Höhe über dem Meeresspiegel.
Physische Stressoren
Diese schließen mangelnde Fitneß, Schlafdeprivation und niedrige Blutzuckerspiegel nach verpaßten Mahlzeiten mit ein. Die Schlafdeprivation ist ein ernstes Problem in der Luftfahrt, da der circadiane Rhythmus öfter gestört wird, und die Branchenangehörigen zu ungewöhnlichen Zeiten Schlaf finden müssen. Regelmäßige Trainingsprogramme, bestmögliche Schlafroutinen sowie das Mitnehmen von gesunden Zwischenmahlzeiten lindern diese Stressoren.
Psychologische Stressoren
Wie in allen Lebensphasen und bei allen Menschen, tritt psychsicher Streß auch bei Piloten auf. Er kann vom Verlust eines geliebten Menschen, einer Scheidung und vielen anderen herausfordernden Lebenssituationen stammen. Es ist manchmal schwierig zu erkennen, wie und wo man in einer solchen Situation die beste Hilfe und Unterstützung findet.
3.3. Jetzt kommt ADM zum Einsatz
Neben den oben genannten psychologischen Stressoren gibt es auch solche, die durch eine hohe Arbeitsbelastung entstehen. Durch Antizipation, geschickte Planung sowie frühe Vorbereitung von Arbeiten in Phasen geringer Arbeitsbelastung verhindern Piloten, daß sie hinter ihre Aufgaben auf dem Flug zurückfallen.
Um die Resourcen im Team sowie innerhalb und außerhalb des Flugzeuges für seine Zwecke gekonnt einsetzen zu können, muß man sie zunächst erkennen. Es ist ein Teilgebiet des ADM, die Piloten zu lehren, welche Resourcen sie zur Verfügung haben und wie sie diese strukturiert einsetzen, um Gefahren und Risiken zu erkennen und entsprechende Entscheidungen zu treffen.
Dadurch haben sie eine Leitschiene, die ihnen hilft, in einer stressigen Situation den Überblick zu behalten, gezielt zu arbeiten und nicht durch einen gefühlten Kontrollverlust in noch mehr Streß zu geraten. Vielmehr erleben sie, daß sie die Lage beherrschen.
Ein wichtiger Grundsatz im ADM ist es, kurz innezuhalten und zu denken, bevor man vorschnell eine Entscheidung trifft, die dann für noch mehr Streß sorgt. Üblicherweise hat man die Zeit für diesen kurzen Denkvorgang im Team, es bedarf manchmal nur einiger Sekunden.
4. Mit klugen Entscheidungen die Automation nutzen
4.1. Ziele und Risiken der Automation (Auswahl)
Moderne Cockpits schließen multifunktionale Displays, GPS sowie einen vollintegrierten Autopiloten ein. Während die zunehmende Automation in der Luftfahrt dazu gedacht war, menschliche Fehler zu reduzieren und den Piloten mehr freie Kapazitäten für beispielsweise die situative Aufmerksamkeit zu geben, so hat sich herausgestellt, daß sie mit unerwarteten Nebeneffekten einhergeht.
Dazu gehören die nachlassenden grundlegenden Flugfertigkeiten, vor allem bei Piloten, die vornehmlich mit der Automatisierung vertraut gemacht werden. Zudem verlassen sich manche Piloten zu sehr auf die elektronischen Systeme und kompensieren damit mangelndes Können.
Doch jeder Computer kann ausfallen, ebenso der Autopilot. Dann sind plötzlich wieder die manuellen Fertigkeiten gefragt und müssen nahtlos eingesetzt werden. Gerade in einer unerwarteten Situation kann sich dies als eine Herausforderung entpuppen.
4.2. Geschickte Nutzung der Automation
Zunächst müssen die Piloten bei jedem von ihnen geflogenen Flugzeugtyp die einzelnen Systeme der Automation gut kennen und wissen, warum daran was und wie zu bedienen ist. Dies muß über das bloße Memorieren von Reihenfolgen, in welchen bestimmte Knöpfe zu betätigen sind, hinausgehen.
Über Bordsysteme wird geradezu eine Flut an Informationen geliefert. Diese betreffen das Wetter auf der Strecke, aber auch das überflogene Gebiet mit seiner Geographie und eventuell gesperrte Lufträume. Ohne einen konkreten Plan, welche Informationen wann abgefragt und wie sie priorisiert werden sollen, können Piloten leicht den Überblick verlieren und Kapazitäten aufwenden, die eigentlich für andere Aufgaben reserviert waren.
Nachdem es heute viele Abstufungen zwischen manuellem und automatisiertem Flug gibt, müssen die Piloten aktiv entscheiden, wieviel Automation sie einsetzen wollen. Dazu müssen sie wissen, was ihrer situativen Aufmerksamkeit und der Erledigung anfallender Aufgaben einerseits und dem Training ihrer Flugfertigkeiten andererseits, am besten dient. Das übergeordnete Ziel ist es, maximale Sicherheit auf dem Flug zu gewährleisten.
5. Ein wichtiges und hochaktuelles Thema im nächsten Blogartikel
Im Zuge des obenstehenden Artikels haben wir einen ersten Blick auf die Automation in der Luftfahrt geworfen. Im Juni werden wir dieses brandaktuelle Thema genauer unter die Lupe nehmen. Wie verändert sich die Arbeit der Piloten? Wo werden Vorteile und Risiken evident? Worin sind die Menschen den Maschinen überlegen? Und wie sieht es in der Medizin aus?
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 24. Mai 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.