Über Critical Incident Reporting Systems, CIRS, und ihre Verwendung in der Medizin, lesen Sie hier:
1. Warum ist das passiert?
Eine Patientin, die während einer Operation eigentlich eine Vollnarkose erhält, liegt vollkommen wach und kann sich nicht bewegen. Daher kann sie niemandem signalisieren, was sie gerade durchlebt. Gleichzeitig hört sie alles, was am Operationstisch gesprochen wird.
In diesem Fall sind zwei Medikamente, das Narcoticum und das Analgeticum, welche beide kontinuierlich intravenös verabreicht werden, verwechselt worden. Daher ist die Dosierung des Narcoticums viel zu gering.
Warum geschah dieser Fehler mit seinen grausamen Konsequenzen für die Patientin? Was sind die Ursachen und welche weiteren Umstände haben eine Rolle gespielt? Wenn das OP-Team den Fehler zukünftig vermeiden möchte, muß es diese Fragen beantworten. Unsererseits werden wir im Unterkapitel 4. auf diesen Fall zurückkommen.
Zusätzlich sollte das Team die folgenden Schritte unternehmen:
- mit der Patientin sprechen und sich bei ihr aufrichtig entschuldigen; dies ist äußerst wichtig, unabhängig von möglichen rechtlichen Konsequenzen und jeglichem Schmerzensgeld
- herausfinden, wer den Fehler gemacht hat, aber auch, wer noch und welche Umstände dazu beigetragen haben
- die Schuldigen sollten die Verantwortung übernehmen und gerecht bestraft werden, wobei alle Aspekte berücksichtigt werden sollten
- ausarbeiten, wie dieser bestimmte Fehler während künftiger Operationen vermieden werden kann
- darüber nachdenken, welche CRM-Prinzipien außer acht gelassen wurden und wie sie künftig zu nutzen sind
- jeden in Kenntnis setzen in Form einer Lerngelegenheit, nachdem der Fall sorgfältig anonymisiert wurde
- der gesamte Prozeß sollte professionell gehandhabt werden
Es ist nicht wichtig, daß jeder erfährt, wer den Fehler gemacht hat, sondern daß soviele Fachkräfte wie möglich aus ihm lernen soviel sie können, um die Patientensicherheit zu erhöhen.
Hier kommen auch sogenannte Critical Incident Reporting Systems, CIRS, ins Spiel. In den nachfolgenden Unterkapiteln werden wir ergründen, was diese sind, wer Berichte an sie senden kann, und wie die Berichte bearbeitet werden. Wir werden auch beleuchten, was das London Protokoll in seiner zweiten Fassung ist und wie es während der Evaluation der Fälle angewandt wird. Nicht zuletzt, was sind die wichtigsten Ergebnisse eines Reviews von CIRS Studien und was die Limitationen sowie die Vorteile einer Nutzung von CIRS?
2. CIRS gibt es in Spitälern und größeren Organisationen
Es gibt verschiedene Arten von CIRS. Wir werden uns ein paar Beispiele ansehen, bevor wir einen kurzen Blick darauf werfen, wie CIRS typischerweise funktionieren.
2.1. Arten von CIRS
- CIRS welche innerhalb eines Spitals genutzt werden
- „cirs bayern“, das von verschiedenen Rettungsorganisationen gemeinsam betrieben wird, darunter die bayerische Bergwacht
- nationale CIRS, wie das, welches der englische NHS (National Health Service) bereitstellt
- CIRS in Pflegeheimen, etc.
2.2. Wie die meisten CIRS funktionieren
Üblicherweise kann jede Fachkraft im Gesundheitswesen einen Vorfall einsenden, der die Sicherheit von mindestens einem Patienten bedroht hat, oder ein Ereignis, bei welchem der Patient tatsächlich geschädigt wurde. Es werden Formulare für die Fallmeldungen vorgehalten, die anonym ausgefüllt werden können. Angestellte sind nicht verpflichtet, das CIRS zu nutzen und sie halten es nicht immer für notwendig, einen Fall zu melden.
Ein Team von Klinikern mit besonderen Kenntnissen in der Patientensicherheit und dem Risikomanagement evaluieren die Meldungen, wie wir unten im Detail erarbeiten werden. Idealerweise werden Empfehlungen gegeben, die helfen, die Ereignisse zukünftig zu verhindern. Die CIRS-Fälle werden anonym publiziert, sodaß sie von den Angestellten des betreffenden Spitals aufgerufen werden können. Manche sind sogar öffentlich zugänglich, wie „cirs bayern“.
3. Das London Protokoll in seiner zweiten Fassung
Das London Protokoll leitet die Untersucher von klinischen Vorfällen und unerwünschten Ergebnissen durch ihre gründliche Analyse, die, neben allen Umständen, auch das gesamte System umfaßt, in welchem sich das Ereignis zugetragen hat (1).
Unten werden wir zuerst ansehen, was in der zweiten Ausgabe des London Protokolls neu ist, und warum diese Änderungen wohlüberlegt sind, bevor wir unsere Aufmerksamkeit wichtigen Konzepten und den Arten von Faktoren zuwenden, die zu einem Vorfall beitragen. Zuletzt werden wir kurz die Schritte streifen, die während einer Untersuchung unternommen werden.
3.1. Die hauptsächlichen Änderungen in der zweiten Fassung
Nicht nur eine einzige Ursache
Immer wenn jemand einen Fehler macht, gibt es üblicherweise nicht nur eine einzige Ursache, die hinter dem Fehler liegt, den wir an der Oberfläche erkennen. Vielmehr existiert eine oft komplexe Verkettung von Ereignissen neben beitragenden Faktoren verschiedener Art, die in dem Fehler resultieren. Der Fehler wiederum verursacht den Vorfall.
Was wird am wahrscheinlichsten einen weiteren Vorfall auslösen?
Während es immer noch wichtig ist, herauszufinden, was den Fehler verursacht hat, postulieren die Autoren, daß es sogar noch wichtiger ist, zu analysieren, welcher Faktor den größten Effekt auf das Geschehene hatte. Zusätzlich betonen sie, daß es bedeutsam ist, festzustellen, welche Faktoren am wahrscheinlichsten einen weiteren Vorfall oder ein unerwünschtes Ereignis auslösen können.
Das Ziel ist, ein sichereres Gesundheitssystem zu schaffen
Um ein sichereres Gesundheitssystem zu erreichen, zielen die Untersucher darauf ab, die Lücken und Unzulänglichkeiten im System selbst zu finden, die auch dem Fehler zugrunde liegen. Nur wenn diese Lücken identifiziert und geschlossen werden, kann die Gesamtsicherheit verbessert werden. Das ist der Grund dafür, daß die Autoren ihre zweite Fassung „Systemanalyse“ genannt haben. Es ist eine mehr proaktive Sichtweise und umfaßt alle Menschen in dem System, vom Management zu jenen, die direkt am Patienten arbeiten.
Ein sichereres Gesundheitssystem zu erreichen ist mit Just Culture verknüpft
Der gesamte Untersuchungsprozeß kann nur in einer Firmenkultur effektiv vorgenommen werden, die Fairneß hochhält und Gerechtigkeit als wichtiger ansieht als bloße Diszipliniarmaßnahmen. Auch wenn die Systemanalyse wichtig ist, so ist es immer noch notwendig, daß die Schuldigen die Verantwortung übernehmen und persönliche Fehler und Auslassungen gerecht bestraft werden. Dies ist auch die grundlegende Idee der Just Culture.
3.2. Konzepte und Arten von beitragenden Faktoren
In der Analyse werden die menschlichen Fehler und Auslassungen derer an vorderster Front zuerst untersucht. Im Gesundheitswesen sind die Fachkräfte an der vordersten Front diejenigen, die direkt mit den Patienten arbeiten. Von dort ausgehend werden die persönlichen Fehler im Kontext des Systems plaziert, was uns zu den beitragenden Faktoren bringt.
Die Autoren des London Protokolls präsentieren die folgenden Arten von beitragenden Faktoren in ihrer zweiten Fassung:
- Patientenfaktoren
- Aufgaben- und Technikfaktoren
- individuelle Faktoren
- Teamfaktoren
- Arbeitsplatzfaktoren
- Organisations- und Managementfaktoren
- Faktoren im institutionellen Kontext
Probleme in der Patientenversorgung, engl. Care Delivery Problems, CDP
Die Autoren haben sich für diesen Begriff für gefährliche Handlungen entschieden, weil sie manchmal keine einzige Handlung sind, wie die Verwendung einer falschen Spritze, sondern sich über eine längere Zeit erstrecken können. Zum Beispiel kann es einige Zeit dauern, bis das Personal bemerkt, daß eine falsche Medikation verschrieben und bereits über mehrere Tage verabreicht wurde.
3.3. Der Ablauf einer Untersuchung eines Vorfalles
In jeder Untersuchung ist es hilfreich, diese Schritte zu unternehmen:
- Identifikation des Problems und die Entscheidung, die Untersuchung einzuleiten
- Auswahl der Experten, die Teil des Teams für diese Untersuchung sein werden
- Zusammenstellung aller relevanten Daten
- Rekonstruktion der Zeitlinie (in welcher Reihenfolge sind die Ereignisse aufgetreten?)
- Identifikation des Problems in der Patientenversorgung
- Exploration der beitragenden Faktoren
- Empfehlungen und Handlungsplan
1) Taylor-Adams S, Vincent C (kein Publikationsdatum genannt) Systems Analysis of Clinical Incidents, The London Protocol (zweite Fassung), Clinical Safety Research Unit, Imperial College London
4. Die Analyse der Fälle in der CIRS Datenbank
Weil mindestens manche CIRS das London Protokoll verwenden, werden wir nun entlang seiner Anleitung untersuchen, wie der Fall der Patientin zu Beginn dieses Artikels zu einem CIRS gesandt werden könnte. Wir werden explorieren, wie er bewertet werden könnte und welche Empfehlungen resultieren könnten.
4.1. Der Fall wird an das CIRS gesendet
Das Formular wird die folgenden oder ähnliche Abschnitte bereithalten:
- beschreiben Sie, was passiert ist, anonymisieren Sie alle Personen: die Characteristica der Patientin, die Art der Operation und der Allgemeinnarkose, die Verwechslung der Spritzen, einschließlich aller Umstände
- welche Maßnahmen hat das Team ergriffen: hängt davon ab, wann das Team den Fehler bemerkt hat; wenn dies während der Operation war, hätte es die Gabe stoppen sollen, die Spritzen tauschen und eine größere Einzeldosis des Narcoticums geben sollen, bevor die kontinuierliche Gabe beider Medikamente in der korrekten Dosierung fortgesetzt wurde
- Auswirkungen des Ereignisses: das Team sollte darüber mit der Patientin sprechen und sie in dem Formular vermerken
- mögliche Ursachen: die beitragenden Faktoren, die das Team selbst erkannt hat
- welche Maßnahmen das Team bereits ergriffen hat, die Probleme anzugehen
4.2. Die CIRS-Experten identifizieren das Problem in der Patientenversorgung und die beitragenden Faktoren
Das Problem in der Patientenversorgung
Das Problem in der Patientenversorgung war in diesem Fall eine falsche Handlung: Die beiden Medikamente in ihren Spritzen waren verwechselt worden, als sie in die Spritzenpumpen eingespannt wurden. Als diese Pumpen, die ein Medikament kontinuierlich mit einer vorgewählten Perfusionsrate (Milliliter pro Stunde) fördern, eingeschaltet wurden, applizierten sie die beiden Medikamente mit falschen Flußraten in die Vene der Patientin: zuwenig vom Narcoticum, zuviel vom Analgeticum.
Die beitragenden Faktoren könnten umfaßt haben:
- Patientenfaktoren: eine Patientin mit multiplen Vorerkrankungen oder eine Komplikation während der Narkoseeinleitung
- Aufgaben- und Technikfaktoren: Mangel von Checklisten und SOPs, neue oder andere Spritzenpumpe als sonst
- individuelle Faktoren: Fatigue, das Ende einer langen Nachtschicht, der aktuelle Stand von Wissen und Können
- Teamfaktoren: Mangel an Supervision einer jungen Ärztin, diese Ärztin hat sich nicht getraut, um Hilfe zu bitten
- Arbeitsplatzfaktoren: zu hohe Arbeitsbelastung, zum Beispiel könnte die junge Ärztin alleine für die Patientin gesorgt haben müssen, die Schicht könnte ingesamt zu lang gewesen sein
- Organisations- und Managementfaktoren: finanzielle Einschränkungen könnten zu zuwenigen Fachkräften in einer Schicht geführt haben
- Faktoren im institutionellen Kontext: Regularien: Wann werden junge Ärzte als gut genug eingearbeitet angesehen, um komplizierte und komplexe Fälle alleine zu betreuen?
4.3. Empfehlungen
Die Empfehlungen hängen von dem Problem in der Patientenversorgung und den Faktoren ab, welche die Experten erkannt haben. Selbstverständlich werden die Maßnahmen, die das Team schon umgesetzt hat, berücksichtigt. Wenn Empfehlungen gegeben werden, sind diese normalerweise sehr konkret. In diesem Fall könnten sie die Unterstützung betreffen, die junge Ärzte erwarten können, wenn sie sich um Patienten mit komplexen Vorerkrankungen, oder während großer Operationen, kümmern müssen.
Bevor man eine Medikation verabreicht oder eine Spritzenpumpe startet, hilft es enorm, innezuhalten und die folgenden Punke im Geiste durchzugehen, besonders in stressigen Situationen und wenn mehrere Medikamente zu geben sind:
- Ist dies der richtige Patient (z. B. in einer überfüllten Notaufnahme)?
- Gibt es irgend welche Allergien auf das Medikament, das ich Begriff bin zu verabreichen?
- Welche Medikation will ich geben?
- Ist es die richtige Spritze mit der angedachten Medikation in der richtigen Konzentration?
- Wieviele Milliliter werde ich geben?
Normalerweise dauert dieser Prozeß nur wenige Sekunden. Sobald man sicher ist, daß alle Fragen suffizient beantwortet sind, kann man loslegen.
5. Ergebnisse eines Reviews, Limitationen und Vorteile von CIRS
5.1. Ergebnisse eines Reviews von CIRS Studien
In einem Review von 41 Studien über krankenhausassoziierte CIRS (2) haben die Autoren entdeckt, daß die meisten Vorfälle mit Medikamenten verbunden waren (28,8%), gefolgt von nicht näher spezifizierten unerwünschten klinischen Ereignissen (20,6%) und administrativen Fehlern (12,9). Die häufigsten beitragenden Faktoren waren aktives Versagen (26,1%), Kommunikationssysteme (12,7%) und Patientenfaktoren (8,1%). Interessanterweise hatten die meisten Meldungen Pflegefachkräfte eingereicht (83,7%).
2) Goekcimen K, Schwendimann R, Pfeiffer Y, et al. (2023) Addressing Patient Safety Hazards Using Critical Incident Reporting in Hospitals: A Systematic Review. J Patient Saf. 19(1): e1-e8
5.2. Limitationen includieren inkonsistentes Melden und wenige Empfehlungen
Der oben erwähnte Reviewartikel fand zudem diese Limitationen von CIRS-Studien:
- inkonsistentes Melden aufgrund der Freiwilligkeit
- die Formulare könnten nicht alle relevanten Umstände erfassen
- verschiedene CIRS sind schwer miteinander zu vergleichen
- die Qualitätsstandards sind unterschiedlich
- Empfehlung zu Verbesserungen werden nicht immer gegeben; wenn sie eingeschlossen sind, sind sie nicht standardisiert
Aufgrund dieser Faktoren können CIRS nicht ihr ganzes Potential in Form von Rückmeldeschleifen entfalten. Diese helfen, die Prozesse im Gesundheitswesen zu verbessern und dadurch die Patientensicherheit zu erhöhen.
5.3. Wie wir vom Durcharbeiten von CIRS-Fällen profitieren
Wie wir oben gesehen haben, bedürfen die Nutzung von CIRS und die daraus folgende Steigerung der Patientensicherheit der Verbesserung. Doch was erreichen wir, wenn wir die CIRS, die uns zur Verfügung stehen, aktiv gebrauchen?
Weil CIRS frei nutzbar sind, sollten wir überlegen, welche Fälle wir aus unserer eigenen Arbeit berichten könnten. Wenn wir dies tun, sollten wir sorgfältig darüber nachdenken, was passiert ist, und welche Umstände eine Rolle gespielt haben. Selbstverständlich können wir über die CRM-Prinzipien reflektieren, die geholfen hätten, den Vorfall oder den Schadensfall zu verhindern. Normalerweise beurteilen die Experten diese Ideen und kommentieren sie.
Es ist zudem hilfreich, die Fälle in einem CIRS zu lesen. Wenn wir das tun, sollten wir erst den Fall lesen und uns die Zeit dazu nehmen, darüber nachzudenken, wie wir in derselben Situation vorgegangen wären. Gelingt es uns, eine Verkettung von Ereignissen in dem Fall zu entdecken? Wer hat wie gehandelt, und was waren die beitragenden Faktoren?
Wie würden wir das London Protokoll anwenden und was wären unsere Empfehlungen? Wenn wir unsere Arbeit ernstnehmen, wollen wir vielleicht sogar Notizen machen. Wenn wir fertig sind, sollten wir unsere eigene Analyse und Ideen mit denen der professionellen Begutachter vergleichen. Nicht zuletzt, welche Lernpunkte können wir in unseren Arbeitsabläufen nutzen?
6. Echte CIRS-Fälle im nächsten Artikel
Im nächsten Blogartikel werden wir uns echte Fälle ansehen, die an CIRS gesandt und von deren Mitarbeitern evaluiert wurden. Dabei werden wir beleuchten, wie die Fälle beschrieben wurden, wie das London Protokoll angewandt wurde und welche Empfehlungen gegeben wurden. Was können wir aus ihnen schließen und an unseren eigenen Arbeitsplätzen umsetzen?
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 29. September 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.
Die Artikel werden nach einem Jahr von der Blogseite entfernt, aktualisiert, erweitert und in Bücher gefaßt. Diese können Sie auf der Seite „Eine CRM-Buchserie der besonderen Art“ direkt erwerben. Der erste Band wartet dort schon auf Sie: