Über die Alarmierung eines Rettungsteams ohne Gefahrenwarnung aus Sicht der Leitstelle sowie Schwierigkeiten durch automatisierte EKG-Auswertung lesen Sie hier:
1. Ein Notruf wegen Thalliumvergiftung, Internetrecherche und Kommunikation
Zunächst werden wir uns diesen lehrreichen Fall aus „cirs bayern“ ansehen und insbesondere darauf eingehen, wie er anhand des London Protokolles aufgearbeitet wurde. Dieser Fall wurde aus Sicht der integrierten Leitstelle, ILS, geschildert, daher beziehen sich die meisten der Empfehlungen konkret auf die Leitstellenarbeit.
1.1. Der Anrufer meldete eine Thalliumvergiftung
Der Anrufer berichtete dem Leitstellendisponenten über einen Patienten, der Thallium(I)-acetat „Tabletten“ eingenommen hatte und sich zum Zeitpunkt des Notrufes übergab. Die Dosis gab der Anrufer mit „25 Milligramm“ an.
Wie sich später herausstellte, hatte der Patient 25 Gramm Thallium(I)-acetat eingenommen. Die weiteren Umstände dieser Ingestion sind aus der CIRS-Meldung nicht ersichtlich. Es ist somit nicht klar, um was für eine Präparation der Chemikalie es sich handelte und was der Grund für die Einnahme gewesen war.
1.2. Die Internetrecherche zu Thalliumacetat
Der ILS-Disponent nahm eine kurze Internetrecherche zu „Thalliumacetat“ vor und stieß in den angezeigten Ergebnissen unter anderem auf „Globuli“ in Verbindung mit dem Begriff „Medikament“. Daher und vermutlich auch wegen der genannten Dosierung von 25 Milligramm, nahm er keine Gefahr für die alarmierte Rettungswagenbesatzung an und sprach keine Gefährdungswarnung aus.
1.3. Das Rettungsteam bemühte den Giftnotruf
Das Rettungsteam brachte vor Ort die wahre Einnahme von 25 Gramm in Erfahrung und kontaktierte die Giftnotrufzentrale. Diese war zu dem Zeitpunkt mit Anrufen überlastet, weshalb das Team eine zweite Giftnotrufzentrale anrief. Eine spezielle, priorisierte Telephonleitung für Rettungsdienste existiert nicht.
Schlußendlich erfuhr das Rettungsteam, daß die letale Dosis für den Menschen bei einem Gramm Thallium liegt und daß Übelkeit und Erbrechen Symptome sind, die in den ersten Stunden nach der Ingestion auftreten.
2. Das giftige Thallium(I)-acetat und Thallium Globuli
2.1. Thallium(I)-acetat
Thallium(I)-acetat ist ein Thalliumsalz, das zum Beispiel als selektives Wachstumsmedium in der Microbiologie angewendet wird. Da es sehr giftig ist, wurde es früher als Rattengift verwendet. Eine berufliche Exposition besteht unter anderem in der Zement-, Papier-, Glas- und Stahlindustrie sowie bei der Herstellung von Leuchtfarben und Pyrotechnik.
2.2. Thallium Globuli
Thallium Globuli stehen als verschiedene homöopathische Präparate und in mehreren Potenzierungen zur Verfügung. Durch die starke Verdünnungsreihe ist Thallium darin nicht mehr enthalten, es soll nur dessen Information in den Globuli transportiert werden. Diese können gegen Haarausfall eingesetzt werden.
3. Aufarbeitung der Kommunikation über Thallium(I)-acetat nach Londonprotokoll
„cirs bayern“ hatte den Fall folgendermaßen strukturiert nach dem London Protokoll aufgearbeitet.
3.1. Kernproblem des Thallium-Falles
Anstelle von Thallium(I)-acetat hatte der Disponent „Thalliumacetat“ recherchiert, was zu Ergebnissen führte, die eine unmittelbare Gefahr nicht erahnen ließen. Laut „cirs bayern“ wurde das Ergebnis von Google, wohl aufgrund häufiger Suchen nach „Thalliumvergiftung“, angepaßt. Der Disponent sah nach seiner Recherche keinen Anlaß, die Besatzung des Rettungswagens zu vor einer Gefahr zu warnen.
3.2. Der fehlerhafte Vorgang
Wegen der falschen Mengenangabe des Anrufers und des Ergebnisses der Recherche wurde die RTW-Besatzung nicht vor der Gefahr durch einen Giftstoff gewarnt.
3.3. Beitragende Faktoren nach den Kategorien des London Protokolles
Organisations- und managementabhängig:
Ohne eine priorisierte Telephonnummer der Giftnotrufzentrale für Rettungsdienst und Leitstelle war eine zügige Kontaktaufnahme nicht möglich.
Anmerkung der Autorin: Dieser Anruf war überhaupt erst durch das Rettungsteam getätigt worden. Möglicherweise hätte dies der Disponent erledigt, wenn er eine direkte Leitung zur Giftnotrufzentrale gehabt hätte.
Aufgaben- und prozeßabhängig:
Leitstellendisponenten können nur bedingt telephonische Hilfe von Spezialkräften bei Giftnotfällen in Anspruch nehmen, zum Beispiel die der Analytischen Task Force, ATF. Nachschlagewerke, wie die Rote und die Gelbe Liste (beides Arzneimittelverzeichnisse für Deutschland) oder die GESTIS-Stoffdatenbank sind über das Einsatzleitsystem nicht unmittelbar zugänglich.
Zudem liegt es an den jeweiligen Leitstellen selbst, ihre Mitarbeiter für solche Recherchearbeiten zu schulen. Eine bayernweit einheitliche Regelung existiert nicht.
Arbeits- und umfeldabhängig:
Die Mitarbeiter von ILS haben Zugriff auf die Gefahrstoffdatenbank Memplex®, die allerdings keine Medikamente auflistet. Da der Disponent von einem Medikament ausgegangen war, hatte er eine allgemeine Internetrecherche vorgenommen.
Individuell:
Der Anrufer hatte die falsche Mengenangabe „25 Milligramm“ anstelle von „25 Gramm“ gemacht. Es ist nicht bekannt, ob der Disponent diese Angabe auf ihre Plausibilität hin überprüft hatte.
3.4. Die empfohlenen Interventionsmaßnahmen
Die folgenden Maßnahmen wurden von den Mitarbeitern des „cirs bayern“ vorgeschlagen:
- Schaffung einer Datenbank für die professionelle Recherche, die neben Gefahrstoffen auch Medikamente beinhaltet
- Überarbeitung der Empfehlung zur strukturierten Notrufabfrage für Notrufe in bezug auf Giftstoffe durch den bayerischen Rettungsdienstausschuß
- Einrichtung von Direktwahlnummern zu professionellen Diensten wie der Giftnotrufzentrale für ILS und Rettungsdienste
- bayernweite Schulung von ILS-Disponenten zur Recherche von unbekannten Stoffen
- bayernweite Schulung des Rettungsdienstpersonals über die persönliche Schutzausrüstung für Einsätze mit Giftstoffen
Es wird in „cirs bayern“ kein Verlauf über die Umsetzung der Vorschläge dokumentiert. Inwieweit die betroffenen Organisationen Verbesserungen vorgenommen haben, können wir somit nicht erfahren.
4. Das nehmen wir aus dem Thallium-Fall mit
Nachdem wir uns im Unterkapitel 3 die Aufarbeitung des Falles nach dem London Protokoll inclusive der Empfehlungen für die Leitstellenarbeit angesehen hatten, kommen wir nun zu den Punkten, die wir für unsere eigenen Arbeitsplätze mitnehmen können.
Den fehlerhaften Vorgang kann man aus Sicht des CRM dem sogenannten Fixierungsfehler zuordnen. Nachfolgend werden wir diese Fehlerart definieren und sie auf den oben beschriebenen Thallium-Fall anwenden, bevor wir ergründen, was wir gegen sie unternehmen können.
4.1. Fixierungsfehler sind schwer zu erkennen
Definition des Fixierungsfehlers
Wir begehen solche Fehler, wenn wir uns vorschnell auf eine Diagnose oder eine Entscheidung fixieren. Dies geschieht dann, wenn wir uns an einer Information oder einer Auswahl von Symptomen „festbeißen“ und alle weiteren Möglichkeiten, die sich aus unseren Informationen ebenfalls ergeben können, nicht mehr ins Kalkül ziehen. Ein konkretes Beispiel ist eine unkritisch übernommene Arbeitsdiagnose, die ohne weitere differentialdiagnostische Überlegungen als Diagnose festgelegt wird.
Mögliche Fixation im Thallium-Fall
Vermutlich dachte der Disponent durch die Kombination der Mengenangabe „25 Milligramm“ und dem Rechercheergebnis „Globuli“ vorrangig an ein Medikament und warnte daher die Besatzung nicht vor der Gefahr durch das Gift Thallium(I)-acetat.
Dies ist eine Überlegung in Rückschau auf den Fall. Es ist wichtig, die begrenzte Zeit und den eingeschränkten Zugang zu professionellen Nachschlagewerken zu berücksichtigen.
Fixierungsfehler sind tückisch und schwer zu erkennen
Gerade in komplexen Situationen, in welchen viele Informationen verschiedener Art auf einmal verarbeitet, die Teamarbeit koordiniert und Entscheidungen getroffen werden müssen, sind Fixierungsfehler häufig.
Sie ereignen sich, wenn wir Informationen nicht hinterfragen, oder uns unser Denkmuster bereits fertig zurechtgelegt haben und daraufhin keine weitere Spur mehr in unserem Denken zulassen. Das geschieht oft nicht bewußt. Vielmehr haben die vielen Facetten einer komplexen Situation darauf ihren Einfluß.
Allgemeine Tips zum Umgang mit Fixierungsfehlern:
- sich mit dem Problem „Fixierungsfehler“ als solchem vertraut machen
- im Team begangene Fixierungsfehler gemeinsam aufarbeiten
- Fälle darüber in CIRS-Systemen lesen
- im Verlauf ein Gespür für die Muster von Fixierungsfehlern entwickeln
- wissen, daß man sie nicht vollständig vermeiden kann
CRM-Techniken zur Vermeidung von Fixierungsfehlern:
- habe Zweifel und überprüfe genau, nie etwas annehmen (aus den 15 CRM Leitsätzen nach Rall und Gaba), gilt für jede Form von Information
- beachte und verwende alle verfügbaren Informationen (15 CRM Leitsätze), z. B. nicht auf eine einzige Aussage eines Angehörigen oder Zeugen verlassen
- bei Übergaben genau aufpassen, übernommene Diagnosen und Angaben sind eine gefürchtete Quelle für diesen Fehlertyp
- nicht mit der erstbesten Diagnose oder Lösung zufriedengeben, nochmals kritisch denken
- im Team alle Mitglieder in einem Team Time Out fragen, ob nichts übersehen wurde
4.2. Mengenangaben soweit möglich auf Plausibilität prüfen
Die falsche Angabe der Menge wurde im obigen Fall dem Bericht nach geglaubt, was den Fixierungsfehler begünstigte.
Tips zur Fehlerminimierung bei der Arbeit mit Mengenangaben:
- Mengenangaben mündlich immer wiederholen, dabei diese auf Plausibilität prüfen, soweit es möglich ist
- mit Aufregung und Verwechslungen rechnen, gezielt nachfragen
- nach konkreten Angaben auf der Packung fragen, bei Medikamenten auch die Zahl eingenommener Tabletten erfragen
- CAVE: Vorsicht bei Verpackungen von Giftstoffen, es gibt Kontaktgifte, Eigenschutz geht immer vor
5. Der NHS faßt CIRS-Fälle in Berichten zusammen
Nachdem wir potentielle Lernpunkte für uns selbst aus Thallium(I)-acetat-Fall erarbeitet haben, wenden wir uns nun dem englischen National Health Service, NHS, zu. Seine Mitarbeiter arbeiten gemeldete CIRS-Fälle in Berichten auf.
Diese Berichte geben eine Zusammenfassung wichtiger Fälle wider und enthalten zudem die konkret umgesetzten Maßnahmen zur künftigen Vermeidung der geschilderten Situation. Bei allen Fällen wird angegeben, zu welchen Organisationen Kontakt aufgenommen wurde, um die erkannten Sicherheitsrisiken zu diskutieren und Verbesserungen zu erreichen.
Exemplarisch werden wir uns aus dem Bericht von April bis September 2019 zwei Fälle bezüglich automatischer EKG-Auswertung herausgreifen (Seite 28 f.). Der Bericht ist auf der oben verlinkten Seite des NHS abrufbar. Leider wurde diese Seite zuletzt am 11. Februar 2021 aktualisiert (zuletzt eingesehen am 29. Oktober 2023).
6. Zwei CIRS-Berichte in bezug auf automatisierte EKG-Analysen
6.1. Ein initial als „normal“ bewertetes EKG
Ein von der automatischen Analyse initital als „normal“ bewertetes EKG stellte sich posthum als abnormal heraus. Dies veranlaßte die Mitarbeiter des NHS, den Begriff „normal“ zu hinterfragen und ihn mit Experten in der EKG-Auswertung zu diskutieren, um eine Änderung in „keine abnormalen Befunde erkannt“ anzuregen.
Die Experten sagten ihrerseits, daß der Begriff „normal“ ein internationaler Standard sei und somit keine Aussicht auf eine Änderung bestehen würde. Wohl aber würden sie laufend daran arbeiten, daß in der medizinischen Ausbildung der Wert einer EKG-Auswertung durch echte Personen betont wird.
Leider ist in diesem Fall nicht bekannt, ob die manuelle Analyse des EKGs eine entscheidende Diagnose erbracht und somit den Krankheitsverlauf möglicherweise beeinflußt hätte.
6.2. Wenn Alter und Geschlecht vor der EKG-Aufzeichnung nicht manuell eingegeben werden
Wenn man an einem EKG-Gerät vor der Aufzeichnung eines EKGs Alter und Geschlecht des Patienten nicht vorwählt, nimmt das EKG automatisch „männlich“ und „50 Jahre“ an. Dies hat bei der automatischen Analyse die Folge, daß möglicherweise abnorme Befunde als normal eingestuft werden.
Dies ist zum Beispiel bei der Diagnose von Herzinfarkten relevant, da die Abweichungen von der normalen Linie in Millimetern für beide Geschlechter und verschiedene Altersstufen unterschiedlich festgelegt sind.
Zum einen ist also zu fordern, daß bei fehlender Eingabe angegeben wird, daß Alter und Geschlecht unbekannt sind. Zum anderen veranschaulicht auch diese Begebenheit, wie wichtig die menschliche EKG-Begutachtung ist.
7. Gerade im Lichte der Automation wird echte Heilkunst sichtbar
Auch wenn automatisierte Prozesse schnelle Ergebnisse liefern und somit die Arbeit insgesamt beschleunigen, sind wir als Menschen eine wichtige Kontrollinstanz. So ist es auch in der Medizin. Insbesondere bei EKG-Auswertungen muß der Befund immer im Kontext mit der klinischen Präsentation des Patienten sowie weiteren Untersuchungsbefunden gesehen werden.
Daher sollten wir uns nie auf die Maschine alleine verlassen, sondern unseren Blick für unsere Patientinnen und Patienten sowie unser kritisches Denken und unsere Vorerfahrung einsetzen, um echte Heilkunst, die das große Ganze im Blick behält, auszuüben.
8. Wichtige Zusammenhänge für die Teamarbeit im nächsten Artikel
Im nächsten Artikel diskutieren wir die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Hierarchieausprägungen, dem Verhaltensspektrum zwischen zu großer Schüchternheit und autoritärem Auftreten sowie der Gestaltung der Teamarbeit. Dies ist ein spannendes Thema, das Konsequenzen für die Sicherheit hat.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 30. Oktober 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.
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