Über die beiden Boeing 737 MAX 8 Unfälle, die Rolle des MCAS, Kommunikation und Konsequenzen, lesen Sie hier:
1. Größere Triebwerke an der Boeing 737 MAX 8
Der Hersteller intendierte für sein neues Modell, die Boeing 737 MAX 8, einen effizienteren Kerosinverbrauch. Daher wurden größere Triebwerke vom Typ LEAP-1B entwickelt. Um diese größeren Triebwerke unter den Flügeln unterzubringen und dabei genügend Abstand zum Boden zu lassen, mußten sie weiter vorne und näher an der Flügelunterseite montiert werden als die CFM56-7 Triebwerke am Vorgängermodell, der Boeing 737NG (Next Generation).
Die Größe der neuen Triebwerke und deren Plazierung verursachen einen Wirbel hinter der Triebwerksummantelung, welche bei einem hohen Anstellwinkel für Auftrieb sorgt. Weil sich die Triebwerke vor dem Schwerpunkt befinden, zeigen die Flugzeuge die Tendenz, die Nase zu heben.
Diese Tendenz, durch welche der Anstellwinkel vergrößert wird, bedeutet auch, daß die Piloten weniger Kraft aufwenden müssen, um das Steuerhorn zu sich zu ziehen wenn sie einen Steigflug erzielen wollen. Dies wurde als gefährlich angesehen, da ein kritischer Anstellwinkel nahe dem Strömungsabriß so leichter erreicht werden kann. Deshalb steigt der Widerstand im Steuerhorn gewollt an, wenn die Sensoren anzeigen, daß ein kritischer Anstellwinkel näherrückt.
In der Zusammenfassung war eine Lösung notwendig, um der Steigerung des Anstellwinkels hin zu Werten, bei welchen ein Strömungsabriß wahrscheinlicher wird, zu begegnen. Da andere Maßnahmen, wie die Neugestaltung eines Metallstreifens an der Vorderkante des Flügels, vermutlich nicht zertifiziert worden wären, wurde das sogenannte Manoeuvering Characteristics Augmentation System, MCAS, das schon an vorherigen Modellen existiert hatte, erheblich verändert. Neue automatisierte Funktionen wurden integriert.
2. Das Manoeuvering Characteristics Augmentation System, MCAS
An der Boeing 737 MAX 8 konnte MCAS die Nase des Flugzeuges automatisch senken, als Reaktion auf die Werte, die von den Sensoren für den Anstellwinkel geliefert wurden. Jede Maschine hat zwei Sensoren, welche sich an beiden Seiten der Nase befinden. Doch zur Aktivierung des MCAS war nur der Wert eines Sensors notwendig.
Am Heck befindet sich das trimmbare Höhenleitwerk, welches auf und ab bewegt werden kann. In Übereinstimmung mit dieser Bewegung wird der Anstellwinkel entweder vergrößert (Nase aufwärts), oder verringert (Nase abwärts). Üblicherweise können die Piloten einer Boeing Maschine die Schalter an ihren Steuerhörnern verwenden, um dieses Leitwerk zu trimmen, oder die Pitch-Trimmräder in der Mittelkonsole, wenn manuelles Trimmen nötig ist.
Wie wir schon erörtert haben, konnte MCAS den Anstellwinkel automatisch verringern. Dazu mußten die Klappen an den Flügeln vollständig zurückgezogen sein.
Nachdem Piloten aktiv dem MCAS entgegengewirkt hatten, konnte sich dieses System selbst zurücksetzen und seine Aktion wiederholen.
Beispiel eines trimmbares Höhenleitwerkes, bei der Boeing 737 MAX 8 selber Aufbau des Höhen- und Seitenleitwerkes. Photographie Schottdorf EM
3. MCAS während der Zertifizierung der Boeing 737 MAX 8
Weil der Zertifizierungsprozeß eines Flugzeuges komplex ist, und in diesem Fall MCAS von Relevanz ist, werden wir uns nachfolgend auf dieses System konzentrieren.
3.1. Konkurrenz und finanzielle Interessen
Boeings Konkurrent Airbus hatte den kerosinsparenden A330neo auf den Markt gebracht, welcher großen Erfolg hatte. Da die American Airlines überlegten, diese Maschine zu kaufen, mußte Boeing rasch reagieren. Einen neuen Flugzeugtyp zu konstruieren hätte eine jahrelange Entwicklung und eine beachtliche Investition bedeutet.
Noch dazu erfordert ein neuer Flugzeugtyp extensives Simulatortraining, welches für die Fluglinien sehr teuer ist. Einen Airbus A330neo oder eine komplett neue Boeing anzuschaffen, hätte solch kostenintensives Training beinhaltet, wohingegen der Kauf eines Flugzeugtyps, den eine Fluglinie schon in ihrer Flotte hat, dies nicht tut.
Daher wollte Boeing, daß ihre neue Maschine als Variante der vorhandenen 737er betrachtet wird. Um eine Zertifizierung der Boeing 737 MAX 8 als eine solche Variante zu erhalten, mußte der Konzern die Innovationen und erweiterten Funktionen des MCAS herunterspielen.
3.2. Die Kommunikation über MCAS in der Boeing 737 MAX 8
Als Boeing die Papiere einreichte, gelang es dem Hersteller, die amerikanische Luftfahrtbehörde, die Federal Aviation Administration, FAA, davon zu überzeugen, daß die Veränderungen des MCAS so vernachlässigbar seien, daß sie nicht besonders erwähnt werden müßten.
Das Training, welches notwendig ist, ein Modell desselben Flugzeugtyps zu fliegen, darf als Computerprogramm gestaltet werden und kann an einem Tablet absolviert werden. Dieses Programm informiert die Piloten über alle Veränderungen, die im Vergleich zum Vorläufermodell vorgenommen wurden. Im Falle der Boeing 737 MAX 8 war MCAS nicht includiert.
Deshalb erfuhren die Piloten nicht von der Bandbreite der neuen und automatischen Funktionen des MCAS, als die Boeing 737 MAX 8 im März 2017 zertifiziert wurde. Diese Funktionen wurden auch nicht im Handbuch der Piloten erwähnt, was die Piloten ohne jede Chance zurückließ, über das System Bescheid zu wissen und, was noch schlimmer ist, seine ungewollte Aktivierung suffizient zu unterbinden.
3.3. Das Organisation Designation Authorisation Programme (ODA) der FAA
Das sogenannte Organisation Designation Authorisation Programme der FAA überläßt bestimmte Teile des Zertifizierungsprozesses dem Hersteller selbst. Das wiederum reduziert die Aufsicht, welche die FAA darüber ausübt, wie Boeing die Details handhabt und was genau die technischen Innovationen beinhalten. Während der Zertifizierung der Boeing 737 MAX 8 führte dies zu erheblichen Mißverständnissen bezüglich MCAS (1).
1) U.S. Department of Transportation, Office of Inspector General (2021) Weaknesses in FAA´s Certification and Delegation Processes Hindered Its Oversight of the 737 MAX 8. Report No. 2021020
4. Der Absturz des Lion Air Fluges 610 am 29. Oktober 2018
Am 29. Oktober 2018, begannen die beiden Piloten (Kapitän Bhavye Sunaja, 31, und der Erste Offizier Harvino, nur ein Name) ihren Flug LT 610 bei Tageslicht und „guten“ Wetterbedingungen. Die Boeing 737 MAX 8, die auf diesem Flug eingesetzt wurde, war registriert als PK-LQP.
Die geplante Route sollte vom Soekarno International Airport in Jakarta, Indonesien nach Pangkal Pinang, ebenfalls in Indonesien, führen. In der Kabine befanden sich sechs Flugbegleiter und 181 Passagiere.
4.1. Was geschah im Cockpit der Boeing 737 MAX 8 vor dem Aufprall?
Die Vorbesprechung vor dem Flug und der Weg zur Startbahn
- während der Vorbesprechung wurden die technischen Probleme nicht erwähnt, die nach dem vorangegangenen Flug dokumentiert worden waren (unten ausgeführt)
- als die Piloten auf dem Weg zur Startbahn waren, zeigte das linke Display einen Anstellwinkel von -1° an, das rechte +13°
Start und initialer Steigflug
- die Piloten starteten von der Startbahn 25L um 06:18 Uhr lokaler Zeit
- zwei Sekunden nach dem Abheben wurde der linke Stick Shaker aktiviert (hörbare und schnelle Vibration des Steuerhornes, um die Piloten vor einem bevorstehenden Strömungsabriß zu warnen)
- das „take-off configuration warning system“ (Startkonfigurations-Warnsystem) ließ seinen Alarm hören
Unzuverlässige Anzeige von Geschwindigkeit und Höhe
- um 06:20 Uhr bemerkte der Erste Offizier: „indicated airspeed disagree“ (Differenz zwischen den auf beiden Seiten angezeigten Geschwindigkeiten, die Warnung erscheint, wenn der Unterschied mehr als 5 Knoten über mehr als 5 Sekunden beträgt)
- der Erste Offizier fragte, ob sie zum Flughafen zurückkehren sollten, aber er erhielt keine Antwort (aus CRM-Sicht: Kommunikationsprobleme und mangelnde Durchsetzung, doch wir müssen vorsichtig sein, da die Hierarchien anders sein könnten)
- als das linke Display eine Höhe von 790 Fuß und das rechte eine von 1040 Fuß anzeigte, bat die Crew die Flugaufsicht, ihre Flughöhe zu verifizieren: auf der Anzeige des Radars betrug sie 900 Fuß
- um 06:21 Uhr und 45 Sekunden informierten die Piloten die Flugaufsicht darüber, daß sie Probleme mit der Flugsteuerung hatten, sie nutzen aber nicht das Zeichen PAN PAN PAN (Signal für die Flugaufsicht, diese Nachricht zu priorisieren, da die Crew Hilfe in einer potentiell gefährlichen Situation benötigen könnte)
- um 06:22 Uhr begannen die Piloten die Klappen an den Flügeln zurückzuziehen, und als diese vollständig zurückgezogen waren, neigte das Flugzeug die Nase für 10 Sekunden nach unten
- als die Piloten die Klappen wieder ausfuhren, sistierte dieses Geschehen, trat nach erneutem Einfahren der Klappen aber wieder auf
Die anhaltenden automatischen Sinkflüge der Boeing 737 MAX 8
- zusammengefaßt traten mehr als 20 Absenkungen der Nase auf, jede davon wurde von den Piloten pariert
- ihre Maschine konnte nicht kontinuierlich steigen, vielmehr waren die Höhenschwankungen beträchtlich, mit einer Sinkflugrate von bis zu 3200 Fuß pro Minute
- um 06:31 Uhr und 43 Sekunden versetzte das versteckte MCAS das Flugzeug mit einer Abwärtsbewegung in einen fast vertikalen Sinkflug
- das Bodennäherungswarnsystem erkannte die Meeresoberfläche und die Warnung „Terrain, Terrain“, gefolgt von „pull up, pull up“ erklang
- um 06:32 Uhr brach die Kommunikation mit der Flugaufsicht ab
Was müssen die die Piloten empfunden haben, als sie versuchten, die anhaltenden unerwünschten Sinkflüge ihrer Boeing 737 MAX 8 zu bekämpfen, was einen zunehmenden Widerstand im Steuerhorn beinhaltete?
4.2. Der PK-LQP Flug, der dem Lion Air Flug 610 vorausging
Das Flugzeug mit der Registrierung PK-LQP wurde auf einem Flug von Denpasar nach Jakarta am 28. Oktober 2018 eingesetzt. In der Besprechung vor dem Flug erwähnte der Kapitän, daß ein Sensor für den Anstellwinkel ersetzt und entsprechend getestet worden war (2).
Die Ereignisse auf diesem Flug entwickelten sich, wie folgt:
- nach einem unauffälligen Start, bei einer Flughöhe von ungefähr 400 Fuß, wurde eine Warnung wegen unzuverlässiger Geschwindigkeit angezeigt
- der Stick Shaker wurde aktiviert (hörbare und rasche Vibration des Steuerhornes, um die Piloten vor einem bevorstehenden Strömungsabriß zu warnen)
- der Kapitän, welcher das Flugzeug steuerte, übergab die Kontrolle seinem Ersten Offizier, da er die Ursache des Problems ergründen wollte
- das linke Display schien nicht richtig zu funktionieren
- Beschleunigung und Zurückziehen der Klappen wurden fortgesetzt wie üblich
- dem Kapitän fiel auf, daß, wann immer der Erste Offizier aufhörte, das Flugzeug zu trimmen, dieses die Nase absenkte
- nach drei dieser unerwünschten Sinkflüge merkte der Erste Offizier an, daß es schwer war, das Steuerhorn nach hinten zu ziehen
- der Flugaufsicht wurde PAN PAN PAN erklärt
- mit den Schaltern in der Mittelkonsole wurde die Stromzufuhr zur automatischen Einstellung des trimmbaren Höhenleitwerkes abgeschaltet, woraufhin die Sinkflüge aufhörten, auf erneutes Einschalten hin trat das Problem wieder auf
- daher wurden die Schalter wieder in die „CUT-OUT“-Position umgelegt
- drei Checklisten für nichtnormale Zustände wurden abgearbeitet, diejenigen für unzuverlässige Geschwindigkeit, unzuverlässige Flughöhe und für das nicht zu stoppende trimmbare Höhenleitwerk (wird verwendet, wenn die Pitch-Trimmräder anfangen, sich unaufhörlich zu drehen, ein Zeichen dafür, daß das Leitwerk anhaltend getrimmt wird)
- den Piloten gelang es, ihr Flugzeug sicher in Jakarta zu landen
Die Piloten verwendeten wichtige Checklisten. Es gelang ihnen auch, die Weiterleitung der Signale von MCAS and das Höhenleitwerk zu stoppen, indem sie die sogenannten „STAB TRIM“ Schalter in die „CUT-OUT“ Position legten. Dies wiederum stoppte die Sinkflüg. Es ist aber von großer Bedeutung, anzumerken, daß MCAS und seine versteckten Funktionen in diesem Ereignisablauf überhaupt nicht erwähnt wurden. Nach diesem Flug informierte der Kapitän einen Flugingenieur über die Pobleme und dokumentierte sie zudem im Flugzeugwartungslogbuch.
2) Komite Nasional Keselamatan Transportasi, Republic of Indonesia (2018) Preliminary Aircraft Accident Investigation Report, KNKT.18.10.35.04, PT. Lion Mentari Airlines, Boeing 737-8 (MAX); PK-LQP, Tanjung Karawang, West Java, Republic of Indonesia, 29 October 2018 (page 28 and following)
4.3. Die Reaktionen von Piloten auf den Unfall
Wie müssen sich Piloten der Boeing 737 MAX 8 gefühlt haben, als sie erfuhren, daß ihre Kollegen mit einem versteckten automatischen System umgehen mußten, das dysfunktional war?
Kapitän Daniel Carey, der Gewerkschaftspräsident der Allied Pilots Association, schrieb in seinen Bemerkungen, die er für die Anhörung vor dem Unterausschuß für Luftfahrt vor dem Parlament vorbereitet hatte:
„Der riesige Auslassungsfehler ist, daß Boeing darin versagt hat, die Existenz des MCAS der Gemeinschaft der Piloten offenzulegen. Der finale tödliche Fehler war daher die Abwesenheit von solidem Pilotentraining für den Fall, daß MCAS versagt.“
4.4. Boeings Verhalten nach dem ersten Absturz einer Boeing 737 MAX 8
Boeing übernahm zunächst keine Verantwortung. Des weiteren reflektierte die Firma – zumindest öffentlich – nicht über die Rolle, die MCAS beim Absturz des Fluges LT 610 gespielt hatte. Vielmehr focusierte sie auf den Flug, der dem fatalen vorausgegangen war und hob Wartungsprobleme hervor. Noch dazu versuchte sie, die Piloten für die Fehler anzuschuldigen, die sie gemacht hatten, während die Firma gleichzeitig den Familien der Opfer ihr Beileid aussprach und die Relevanz von Sicherheit betonte.
In das Training der Piloten waren keine Simulatorübungen eingebunden worden. Vielmehr wurde es nach dem ersten Unfall einer Boeing 737 MAX 8 nach wie vor auf einem Tablet präsentiert.
5. Fataler Verlauf des Ethiopian Airlines Fluges 302 am 10. März 2019
5.1. Technische Fehlfunktionen der als ET-AVJ registrierten Boeing 737 MAX 8
Anfang Dezember 2018 mußten wichtige Wartungsarbeiten an der Boeing 737 MAX 8 vorgenommen werden, welche später auf dem Unglücksflug verwendet wurde. Die Gründe dafür waren zeitweilige Fluktuationen der Geschwindigkeits- und Höhenanzeige sowie ein Rollen des Flugzeuges nach links und rechts, welches bei eingeschaltetem Autopiloten aufgetreten war.
Die unzuverlässigen Anzeigen von Geschwindigkeit und Höhe traten vor dem Flug ET 302 wieder auf und wurden entsprechend von Wartungspersonal bearbeitet. Nachdem diese Fluktuationen sich aber intermittierend zeigten, war es schwierig, festzustellen, ob eine dauerhafte Lösung zu diesem Problem gefunden worden war (4, Seite 248).
5.2. Der geplante Flug von Addis Abeba nach Nairobi, Kenia
Flug ET 302 sollte vom internationalen Flughafen Bole aus starten und seine Passagiere zum internationalen Flughafen Jomo Kenyatta bringen. Der Kapitän, 29, sollte als fliegender Pilot fungieren, sein erster Offizier, 25, als beobachtender Pilot. An Bord befanden sich noch sechs Flugbegleiter und 149 Passagiere.
5.3. Die Vorkommnisse auf Flug ET 302 vor dem Aufprall
Anlauf, Abheben und der Beginn des Steigfluges
- um 05:37 Uhr und 51 Sekunden begannen die Piloten ihren Anlauf zum Start, welchem sich ein unauffälliges Abheben anschloß
- unmittelbar nach dem Start wurden fehlerhafte Werte für den Anstellwinkel angezeigt: 74,5° auf dem linken Display und 15,3° auf dem rechten
- der linke Stick Shaker wurde aktiviert
- Warnungen vor unzuverlässiger und abweichender Anzeige der Geschwindigkeit und Flughöhe wurden vom Flugdatenschreiber nicht aufgenommen, hätten aber angezeigt werden müssen; die eigentlichen Abweichungen wurden aber aufgezeichnet
- demzufolge fand keine Besprechung von unzuverlässiger und abweichender Anzeige der Geschwindigkeit und Flughöhe statt und es wurden keine Checklisten für unnormale Situationen in Betracht gezogen
- wiederholt wurde MCAS von falschen Werten für den Anstellwinkel aktiviert und versetzte das Flugzeug in Sinkflug
- beim dritten Versuch schafften es die Piloten, den Autopiloten einzuschalten, obwohl sein Gebrauch in abnormalen Situationen nicht vorgesehen ist, auch wenn er die Arbeitsbelastung reduzieren kann
- um 05:39 Uhr und 23 Sekunden trat ein leichtes Rollen nach links und rechts auf und ebenso leichte Abweichungen vom Kurs
Die ungewollten Sinkflüge setzten sich fort
- um 05:39 Uhr wurde begonnen, die Klappen an den Flügeln zurückzuziehen
- wenige Sekunden später änderte sich der gewählte Kurs von 072° auf 197°
- der Autopilot schaltete sich ab
- die Piloten baten die Flugaufsicht darum, Kurs auf die Landebahn halten zu dürfen und meldeten Probleme mit der Flugsteuerung
- um 05:40 Uhr waren die Klappen vollständig eingefahren und MCAS wurde aktiviert
- nachfolgend warnte das Bodennäherungswarnsystem die Piloten: „don´t sink“ und „pull up“
- um 05:40 Uhr und 22 Sekunden fragte der Erste Offizier den Kapitän, ob sie die Schalter für das trimmbare Höhenleitwerk in die „CUT-OUT“ Position legen sollten, was der Kapitän befürwortete; die Schalter verblieben in der „CUT-OUT“ Position bis 05:43 Uhr und 11 Sekunden
- während dieser Zeit trimmte die Crew manuell
- MCAS war aktiv, aber nachdem die Schalter auf „CUT-OUT“ gesetzt worden waren, reagierte das Höhenleitwerk nicht auf die Signale von MCAS
Erhöhter Widerstand in den Steuerhörnern und die Geschwindigkeit
- doch der Widerstand in den Steuerhörnern war immer noch immens, und beide Piloten zogen ihre Steuerhörner mit großer Kraft zurück, was bedeutet, daß dieser Mechanismus gegen den angeblichen Strömungsabriß immer noch aktiv war
- wenn nur ein Pilot das Steuerhorn nach hinten zog, begann das Flugzeug einen Sinkflug, wenn beide Piloten dies taten, war ein leichter Steigflug möglich
- um 05:41 Uhr und 21 Sekunden, rief der Erste Offizier aus „Captain! Speed“, und auch der Kapitän erkannte, daß sie beschleunigte, aber keiner von beiden reduzierte den Schub, obwohl der Alarm für überhöhte Geschwindigkeit erklang
- um 05:42 Uhr und 47 Sekunden gingen die Piloten existierende Fehlfunktionen durch und entdeckten, daß der linke Sensor für den Anstellwinkel nicht adäquat funktionierte
Reaktivierung der Stromzufuhr zum automatischen Trimmen
- weil die Piloten Schwierigkeiten hatten, das Flugzeug manuell zu trimmen, legten sie die Schalter in der Mittelkonsole wieder um, was augenblicklich dazu führte, das die Signale von MCAS an das Höhenleitwerk übermittelt wurden
- um 05:43 Uhr und 36 Sekunden erklang das Bodennäherungswarnsystem: „terrain, terrain“ und „pull up, pull up“
- mit den zuletzt aufgenommenen Werten für die Geschwindigkeit von 500 Knoten, einem Anstellwinkel von > 40° Nase nach unten und einer Sinkrate von 33 000 Fuß pro Minute, endeten die Aufzeichnungen des Cockpit Voice Recorders und des Flugdatenschreibers um 05:43 Uhr und 44 Sekunden
6. Wichtige Ergebnisse aus beiden Flugunfalluntersuchungen
Die beiden Abstürze einer Boeing 737 MAX 8 ereigneten sich innerhalb von fünf Monaten. Nachfolgend werden wir die Ähnlichkeiten aufdecken, welche während der jeweiligen Untersuchungen zutage gefördert worden waren (3,4), bevor wir einige der zusätzlichen Fakten ansehen, die in den jeweiligen Fällen zum Unglück beigetragen haben.
3) Komite Nasional Keselamatan Transportasi, Republic of Indonesia (201) Final, KNKT.18.10.35.04, PT. Lion Mentari Airlines, Boeing 737-8 (MAX); PK-LQP, Tanjung Karawang, West Java, Republic of Indonesia, 29 October 2018
4) The Federal Democratic Republic of Ethopia, Ministry of Transport and Logistics, Aircraft Accident Investigation Bureau (2022) Investigation Report on Accident to the B737-MAX8 Reg. ET-AVJ, Operated by Ethopian Airlines, 10 March, 2019
6.1. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden tödlichen Boeing 737 MAX 8 Unfällen
Diese schließen ein:
- falsche Werte von den Sensoren für den Anstellwinkel: auf Flug LT 610 bereits auf dem Weg zur Startbahn, auf Flug ET 302 unmittelbar nach dem Abheben
- Der Stick Shaker wurde unmittelbar nach dem Abheben aktiviert
- mehrere unerwünschte automatische Sinkflüge, welche aufgrund der falschen Werte von den Sensoren auftraten
- ein sicherer Steigflug war nicht möglich aufgrund dieser Senkungen der Flugzeugnase
- die Arbeitsbelastung der Piloten war erhöht, weil sie bei jedem einzelnen dieser Sinkflüge, welche sie nicht selbst initiiert hatten, gegensteuern mußten
- der Widerstand in den Steuerhörnern war vergrößert, und die Piloten hatten erhebliche Mühe dabei, sie nach hinten zu ziehen
- der kontinuierliche Kampf gegen die Absenkungen der Flugzeugnase führte auch zu Vertieftsein, Streß und einer reduzierten allgemeinen situativen Aufmerksamkeit, all das trug höchstwahrscheinlich zu Fehlern und Auslassungen bei
- nach nur wenigen Flugminuten neigten sich die Flugzeuge in einen finalen, steilen Sinkflug, der nicht mehr aufzuhalten war
- die Schraube, die das trimmbare Höhenleitwerk bewegt, war in der maximalen Position zur Absenkung der Flugzeugnase, was den steilen Sinkflügen entspricht
Nachdem zu dieser Zeit MCAS automatisch durch die von einem einzigen Sensor angezeigten Werte für den Anstellwinkel aktiviert wurde, hatten die fehlerhaften Werte von diesem Sensor in beiden Fällen die unerwünschten Sinkflüge ausgelöst.
6.2. Weitere beitragende Faktoren
Weitere Faktoren hatten zu beiden Abstürzen einer Boeing 737 MAX 8 beigetragen. Nachfolgend werden wir uns darauf konzentrieren, was in den Cockpits vor sich ging.
Flug LT 610:
- Mißverständnisse zwischen den beiden Piloten
- PAN PAN PAN wurde nicht erklärt, dieser Notfallcode veranlaßt die Fluglotsen, die Nachricht zu priorisieren
- es wurde nichts unternommen, um die unaufhörlichen Trimmbewegungen des Höhenleitwerkes zu stoppen
- doch die Crew hatte das Notfallhandbuch durchsucht, aber darin nichts finden können, was den Grund ihrer Probleme erklärt hätte
Flug ET 302:
- PAN PAN PAN wurde nicht erklärt
- höchstwahrscheinlich durch Vertieftsein hatten die Piloten vergessen, ihre Geschwindigkeit zu reduzieren
- daraufhin nahm ihre Geschwindigkeit bis zum Unfall zu, was es auch unmöglich machte, das trimmbare Höhenleitwerk manuell einzustellen
- da die Piloten ihr Flugzeug nicht manuell trimmen konnten, hatten sie die Schalter in der Mittelkonsole wieder umgelegt, was eine Abweichung von den SOPs darstellte
- verwirrende Alarme und die Schreckreaktion (finaler Report, Seite 247)
7. Das Startverbot für die Boeing 737 MAX 8, Effekte und Wiederinbetriebnahme
7.1. Das Startverbot
Nach dem Absturz von Flug ET 302 am 10. März 2019 erhielten alle Boeing 737 MAX 8 weltweit Startverbot bis Dezember 2020. Ethopian Airlines erteilte dieses als erste Fluglinie bereits am Tag des Unglücks. Die chinesische zivile Luftfahrtbehörde folgte am nächsten Tag und verbot den Flugzeugen diesen Typs den Start.
Die FAA dagegen stellte zunächst ein Zertifikat für die fortgesetzte Lufttüchtigkeit aus, bevor sie den Maschinen am 13. März 2019 den Start verbot. Ab 18. März 2019 waren alle 387 Boeing 737 MAX 8, die weltweit zu dem Zeitpunkt in Betrieb waren, am Boden.
7.2. Die betroffenen Fluglinien und ihre Piloten
Die betroffenen Fluglinien mußten das Geld aufbringen, die gewaltigen Kosten zu decken, da sie zum Beispiel Flüge streichen und andere Maschinen auf noch durchgeführten Flügen einsetzen mußten. Mehrere von ihnen wünschten, daß Boeing für diese finanziellen Verluste aufkam. Piloten mußten mit einer beachtlichen Summe an verlorenen Gehältern aufgrund der ausgefallenen Flüge zurechtkommen.
7.3. Die Effekte auf Boeing
Boeing sah sich Gerichtsprozessen und Untersuchungen gegenüber. Im Juni 2019 strengten die Piloten, die ihre Gehälter aufgrund der Startverbote verloren hatten, eine Sammelklage gegen den Hersteller an. Im Februar 2020 untersuchte das US Justizministerium wie Boeing die Details über MCAS vor der FAA verborgen hatte.
Im Januar 2021 bezahlte die Firma, nachdem sie wegen Betrugs angeklagt worden war, mehr als 2,5 Milliarden Dollar als Abfindung. Die Summe enthielt auch Zahlungen and ihre Kunden sowie die Schaffung eines 500 Milionen Dollar umfassenden Fonds für die Opfer der beiden Unfälle.
Boeing erfuhr einen erheblichen Verlust an Ansehen und Vertrauen. Im Januar 2020 berichtete der Konzern, daß Kunden 183 Bestellungen für die Boeing 737 MAX 8 storniert haten. Er verlor allein durch diesen Auftragsverlust Millarden von Dollar.
7.4. Die Boeing 737 MAX 8 wurde in modifizierter Version wieder in den Dienst gestellt
Die zivilen Luftfahrtbehörden rund um den Globus erlaubten die Wiederinbetriebnahme der Boeing 737 MAX 8 zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Zum Beispiel erklärte sich die Eurpean Union Aviation Safety Agency, EASA mit einer modifizierten Version der Boeing 737 MAX 8 einverstanden, mit den folgenden Auflagen:
- suffizientes Training der Piloten
- ein Paket von Aktualisierungen der Software
- Nacharbeiten an der elektrischen Verkabelung
- aktualisierte Betriebshandbücher
- optimierte Wartung
MCAS kann nun von den Piloten übersteuert werden.
8. Was können wir aus den Abstürzen der Boeing 737 MAX 8 lernen?
Wir sollten sorgfältig beobachten und fundiert reflektieren, wenn wir die Fakten über die beiden Abstürze und darüber, wie sich Boeing und die FAA davor, aber auch nach diesen verhalten haben. Dann sollten wir darüber nachdenken, wie wir in unserer Arbeit nutzen, was wir aus jeder Facette dieser komplexen Geschehnisse gelernt haben.
Die folgenden Fragen können wir als Leitfaden dazu verwenden. Auf sie gibt es keine universellen Antworten, da jeder von uns auf andere Arbeitsbedingungen trifft.
Was ist unsere eigene Einstellung zu diesen Facetten der tödlichen Boeing 737 MAX 8-Unfälle? Wie entscheiden wir uns, in unseren beruflichen Rollen zu agieren? In welchem Arbeitsumfeld wollen wir unser Wissen und Können anbringen?
8.1. Wie sollen wir die Automation handhaben?
Nachdem jedes Arbeitsumfeld unterschiedlich ist, variiert auch das Maß in welchem Automation genutzt wird. Noch dazu haben wir nicht immer Mitspracherecht, wenn neue automatisierte Prozesse eingeführt werden. Dennoch sollte jeder, der in den Entscheidungsprozeß eingebunden ist, sorgfältig über die Notwendigkeit, die Alternativen und darüber, welche Konsequenzen Fehlfunktionen und Ausfälle haben könnten, nachdenken.
Man sollte nicht extra erwähnen müssen, daß versteckte Systeme nicht in Frage kommen.
Jeder einzelne von uns sollte auch darüber nachdenken, wie er Wissen und Können in den Zeiten der Automation aufrechterhält. Beide sind nicht nur wertvoll, wir werden sie auch benötigen, wenn die Technologie plötzlich nicht zur Verfügung steht.
8.2. Ein letzter Gedanke
Wann immer wir Pressemitteilungen und andere Publikationen über die Interaktionen zwischen Großkonzernen jeglicher Art und den jeweiligen Behörden lesen, sollten wir dabei kritisch denken. Welche Informationen liefert der Text und warum? Wo finden wir mehr Fakten, insbesondere über Absichten, finanzielle Interessen und Beziehungen?
Im Gedenken an die 346 Opfer, die auf den Flügen LT 610 und ET 302 ihr Leben verloren.
9. Im nächsten Artikel erkunden wir CIRS in der Medizin
Was sind Critical Incident Reporting Systems, CIRS? Wir werden beleuchten, wer was darin berichten kann, und wie sie aufgebaut sind. Was folgt, nachdem ein Bericht eingereicht wurde? Wir werden etablierte CIRS als Beispiele nutzen und herausarbeiten, wie die Berichte ausgewertet und welche Empfehlungen gegeben werden. Wie sollen wir vorgehen, wenn wir Fälle in einer solchen Datenbank lesen?
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 31. August 2023
Auf meiner Blogseite habe ich weitere Blogartikel für Sie verlinkt.
Die Artikel werden nach einem Jahr von der Blogseite entfernt, aktualisiert, erweitert und in Bücher gefaßt. Diese können Sie auf der Seite „Eine CRM-Buchserie der besonderen Art“ direkt erwerben. Der erste Band wartet dort schon auf Sie: