Über das vielschichtige, gut vierminütige Geschehen, das AF 447 in den Atlantik stürzen ließ, lesen Sie hier:
1. Der Air France Flug 447 – Beginn, Verschwinden, Rekonstruktion
1.1. Crew, Passagiere, Maschine und angestrebter Flug
Die Crew im Cockpit und in der Kabine
Der erfahrenste Pilot an Bord, Marc Dubois, 58, 10988 Flugstunden, war auf diesem Flug der Kapitän. David Robert, 37, ein gestandener Pilot mit 6547 Flugstunden, fungierte als Erster Offizier in Reserve, um Pausen zu ermöglichen. Er hatte bereits mehrfach den Äquator überquert und war daher mit den tropischen Verhältnissen vertraut.
Der Pilot mit der geringsten Erfahrung auf diesem Flug war Pierre-Cédric Bonin, 32, mit 2936 Flugstunden. Er wurde als Erster Offizier auf dem rechten Sitz im Cockpit und gleichzeitig als fliegender Pilot eingesetzt. In der Kabine traten neun Flugbegleiter ihren Dienst an.
Die Passagiere
An Bord befanden sich 216 Passagiere aus 33 Nationen. Die meisten Fluggäste stammten aus Frankreich, Brasilien und Deutschland. Neben 82 Frauen und 126 Männern flogen acht Kinder mit.
Ein Airbus A330-203
Der Airbus A330-200 ist modern und gilt als sehr sicher. Im Cockpit werden alle Flugdaten und Angaben der Bordinstrumente elektronisch angezeigt. Die Piloten steuern ihre Maschine über ein als Fly-by-Wire bekanntes System, bei welchem die Signale der Flugsteuerung nicht mehr mechanisch, sondern elektronisch übermittelt und computergesteuert ausgeführt werden. In einem solchen Airbus finden üblicherweise 210 bis 250 Passagiere Platz.
Die auf dem Flug AF 447 verwendete Maschine besaß die Registrierung F-GZCP. Sie war zu dem Zeitpunkt der jüngste A330 der Fluglinie, geliefert 2005 und am 16. April 2009 generalüberholt. Zum Unfallzeitpunkt waren darin ungefähr 18870 Flugstunden zurückgelegt worden.
Der geplante Flug von Brasilien nach Frankreich
Am Abend des 31. Mai 2009 startete die Maschine um 19:29 Uhr nach brasilianischer Zeit vom Rio de Janeiro-Galeão International Airport. Sie sollte am 1. Juni um 11:03 Uhr nach lokaler Zeit auf dem internationalen Flughafen Paris-Charles de Gaulle eintreffen.
1.2. Über dem Atlantik verschwand AF 447 von den Radarschirmen
Flug entlang der brasilianischen Küste und fehlender Flugplan
Die Piloten folgten nach ihrem Start zunächst der brasilianischen Küste und hielten dabei Funkkontakt mit den jeweiligen Abschnitten der brasilianischen Flugaufsicht, der letzte davon war ACC ATLANTICO (ACC steht für Area Control Centre).
Für ihren Flug über den Atlantik hatte die Crew bereits die Funkfrequenz des senegalesischen ACC DAKAR Oceanic erhalten. Mehrfache Versuche seitens ACC DAKAR Oceanic automatischen Kontakt (ohne Funkspruch mit den Piloten) zur Maschine herzustellen scheiterten aufgrund des fehlenden Flugplanes im System „Eurocat“ der Flugaufsicht.
Der Fluglotse in Dakar nahm Kontakt zu ATLANTICO auf und kreierte später auf der Grundlage der geplanten Route den Flugplan für AF 447, der allerdings virtuell blieb, da es keinen Kontakt zwischen AF 447 und der Flugaufsicht in Dakar gab, weder per Funk noch automatisch. Es ist anzumerken, daß im Kontrollgebiet DAKAR über dem Atlantik die Funkverbindungen häufiger lückenhaft sind.
ACC DAKAR weiter ohne Kontakt zu AF 447
Der senegalesische Fluglotse besprach sich um 02:47 Uhr (UTC, Weltzeit) auch mit dem Kontrollzentrum SAL auf den kapverdischen Inseln, berichtete, daß er keinen Kontakt zu AF 447 gehabt hatte und übermittelte den erstellten Flugplan.
Der Fluglotse auf den Kapverden teilte in einem Gespräch demjenigen in Senegal um 04:08 Uhr mit, daß der den späteren Flug AF 459 bereits auf dem Radarschirm hatte, Flug AF 447 dagegen noch nicht. Die Flugaufsicht in Dakar war offenkundig nicht beunruhigt darüber gewesen, während der gesamten Zeit keinen Kontakt zu AF 447 gehabt zu haben.
Das Verschwinden von AF 447 wurde endlich bemerkt
Eine lange Reihe an Konsultationen zwischen ATLANTICO, SAL, DAKAR, aber auch CANARIAS, folgte und kann im Detail im finalen Unfallbericht der BEA ab Seite 52 nachgelesen werden (BEA: Bureau d’Enquêtes et d’Analyses pour la sécurité de l’aviation civile, französische Behörde für die zivile Flugsicherheit und Untersuchung von Flugunfällen).
Mehrere Versuche von mehreren Seiten, darunter auch der Crew von Flug AF 459 und der Air France direkt, AF 447 anzusprechen, scheiterten. Ingesamt bleibt festzuhalten, daß die Flugausicht in Senegal erst spät beunruhigt war. Es vergingen Stunden, bis die ersten Flugzeuge, auf Notfallmeldungen der Kontrollzentren Madrid und Brest hin, zu einer Such- und Rettungsaktion aufbrachen.
1.3. Auffinden erster Wrackteile, die weitere Suche und Rekonstruktion des Unfalls
Die Suche wurde von der letzten bekannten Position der Maschine aus begonnen. Die ersten Wrackteile wurden in der Nähe der Sankt-Peter-und-Sankt-Pauls-Felsen am 2. Juni, die ersten Opfer am 6. Juni 2009 entdeckt und geborgen.
Die weiteren Arbeiten zogen sich jedoch über viele Monate. Gewaltige personelle, finanzielle und technische Resourcen, insbesondere zur Exploration unter Wasser, wurden unter internationaler Beteiligung eingesetzt.
Den Durchbruch brachten schlußendlich Mitarbeiter der Woods Hole Oceanographic Institution. Die Institution war auch an der Lokalisation des Wracks der Titanic maßgeblich beteiligt gewesen. Ihnen gelang es mithilfe autonomer Unterwasserfahrzeuge am 3. April 2011, einen großen Teil des Flugzeugwracks sowie weitere Opfer auf dem Meeresgrund zu sichten.
Nachdem der Cockpit Voice Recorder sowie der Flugdatenschreiber am 1., respective 2. Mai 2011 geborgen worden waren, begann die Rekonstruktion des Unfallherganges, der wir uns in den nachfolgenden Unterkapiteln zuwenden werden.
Die Originalaufnahmen des Cockpit Voice Recorders wurden nie veröffentlicht, doch es wurde ein Transsciptum verlesen und in mehreren Publikationen wiedergegeben. So auch in dem informativen Film „Fatal Flight 447: Chaos in the Cockpit“ des britischen Channel 4 (September 2012), welcher auf YT hochgeladen wurde.
2. Wetterphänomene, Systemausfälle, Schreck und Konfusion
2.1. Gewitter in der innertropischen Konvergenzzone und weitere Phänomene
Die innertropische Konvergenzzone
Diese Zone ist eine Tiefdruckrinne, die entlang des Äquators um den gesamten Erdball verläuft. Jahreszeitliche Verlagerungen sind durch den Sonnenstand bedingt. Die Zone wandert in den Sommermonaten der Nordhalbkugel nordwärts, in den Wintermonaten nach Süden.
In dieser Tiefdruckrinne, in der Nordost- und Südwestpassat konvergieren, herrscht starke Wolkenbildung, es folgen teils heftige Gewitter, Regengüsse und Hagel. Der Regen kann in den üblichen Flughöhen gefrieren. Piloten müssen auf diese besonders dynamischen Wetterverhältnisse vorbereitet und während ihres Fluges sehr aufmerksam sein, um diese Zone sicher zu durchqueren.
Aufteilung der Teamarbeit in der Gewitternacht
In dieser Nacht entschieden sich mehrere Crews anderer Fluglinien, Gewitter zu umfliegen. Kurz bevor AF 447 auf die ersten Gewitter zusteuerte, verließ Dubois, der Kapitän auf dem Flug, den linken Sitz im Cockpit für seine Pause. Diesen Sitz nahm nun Robert ein, der von seiner Pause zurückkehrte. Bonin blieb vom rechten Sitz aus fliegender Pilot. Robert, der über die größere Erfahrung verfügte, überwachte u. a. die Aktionen seines Kollegen und die Flugroute.
Bonin hielt zunächst Kurs und steuerte erst auf Vorschlag Roberts hin 12 Grad nach links, um eines der Gewitter vor ihnen zu meiden. Aufgrund von Turbulenzen wurden die Anschnallzeichen eingeschaltet.
Elmsfeuer und Ozongeruch
Als Elmsfeuer bezeichnet man Lichterscheinungen, die durch elektrische Ladungen hervorgerufen werden. Sie entstehen auch, wenn zu Eis gefrorene Regentropfen auf die Cockpitscheiben aufprallen. Auch auf dem Flug AF 447 trat dieses Phänomen aufgrund von Eisregen auf und verusachte ein bläuliches Leuchten.
Etwas später bemerkte Bonin einen scharfen, chlorartigen Geruch, den er zunächst nicht einordnen konnte. Robert erklärte ihm, daß dieser von Ozon ausgeht und in den Tropen normal ist.
2.2. Wetterbedingte Folgen für entscheidende Meßsysteme
Für die Geschwindigkeitsmessung eines Fluges ist ein Meßsystem am Flugzeugrumpf installiert, das aus zwei wesentlichen Anteilen besteht. Eines davon sind die sogenannten Pitot Röhrchen an der Flugzeugnase. Sie sind nach vorne gerichtet und offen. Werden diese geblockt, so fällt die Anzeige der Fluggeschwindigkeit aus.
Auf dem Flug AF 447 wurden die Pitot Röhrchen von Eis überzogen und lieferten keine validen Meßwerte mehr. In der Folge schalteten sich der Autopilot und die automatische Schubregelung um 02:10 Uhr ab, und die Piloten mußten den Flug plötzlich manuell übernehmen.
2.3. Überraschung, Erschrecken und Konfusion
Im vorliegenden Fall wurde nach Einfrieren der Pitot Röhrchen die Überraschung durch die folgenden Faktoren ausgelöst:
- hauptsächlich durch den Ausfall von Autopilot und automatischer Schubregelung
- die angezeigte Fluggeschwindigkeit war gefallen
- es wurde ein vermeintlicher Verlust an Flughöhe von 330 Fuß angezeigt
- das Flugzeug neigte sich deutlich nach rechts, da der Autopilot die Turbulenzen nicht mehr ausglich
Als erste Reaktion auf den Überraschungseffekt hin, übernahm Bonin formal die manuelle Kontrolle („I have the controls“, was Robert bestätigte). Um an Flughöhe zu gewinnen und nach links gegenzusteuern, zog Bonin den Sidestick (befindet sich jeweils außen neben den Pilotensitzen und ersetzt im Airbus ein klassisches Steuerhorn) ruckartig nach hinten und nach links. Die Heftigkeit der Bewegungen kann auf ein Erschrecken hindeuten.
Was in den nächsten vier Minuten folgte, war eine Mischung aus inadäquaten fliegerischen Aktionen, Angaben von Flugparametern, welche die Piloten nur weiter verwirrten und Warungen verschiedener Bordsysteme, von denen sie vor allem eine nicht richtig interpretierten. Diese Mischung führte zu völliger Konfusion und Streß. Die Piloten waren nicht mehr in der Lage, ihre Situation zu analysieren und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.
3. Nachfolgende Handlungen der Piloten und ihre Auswirkungen
3.1. Zurückziehen des Sidesticks, Überziehen des Flugzeuges, nicht erkannter Sinkflug
Der Mechanismus des Überziehens
Durch das Zurückziehen des Sidesticks wird die Flugzeugnase angehoben und der Winkel zwischen den Flügeln und der Horizontalen vergrößert. Dieser sogenannte Anstellwinkel darf nur einen bestimmten Grad erreichen, da es sonst zum Überziehen des Flugzeuges kommt.
Dieses Überziehen beruht darauf, daß die Luft bei zu steilem Anstellwinkel in wesentlich geringerer Menge über den Flügel strömt, was den Auftrieb vermindert. Wird der Auftrieb zu gering, fliegt das Flugzeug nicht mehr, sondern beginnt, an Höhe zu verlieren.
Zunächst steiler Steigflug, dann rapider Sinkflug
Auf dem Flug AF 447 führte das initiale Ziehen am Sidestick zunächst durch das Anheben der Flugzeugnase zu einem gewaltigen Steigflug bis zu einer Flughöhe von beinahe 38 000 Fuß. Da in dieser Höhe die Luft dünner wird, verstärkte sich der Mechanismus des Überziehens, und die Maschine begann einen rapiden Sinkflug.
Robert wies seinen Kollegen mehrfach an, das Flugzeug zu stabilisieren und die Flughöhe zu reduzieren. In der Summe hielt Bonin den Sidestick aber die meiste Zeit zurückgezogen. Zusätzlich rollte das Flugzeug weiterhin nach links und rechts, was Bonin mit entsprechenden Eingaben am Sidestick zu korrigieren versuchte.
Warnungen ertönten
Mit dem englischen Wort „stall“ für das Überziehen wurde die Crew mehrfach vom automatischen Warnsystem auf den Zustand ihres Flugzeuges hingewiesen. Es ist nicht klar, warum Bonin und Robert diese Warnung nicht richtig interpretierten. Es scheint, daß sie das Überziehen für nicht der Realität entsprechend hielten, wozu die beiden folgenden Fakten beigetragen haben könnten.
Um 02:10 Uhr 35 Sekunden waren die Pitot Röhrchen wieder aufgetaut, und eine Geschwindigkeit von 220 Konten wurde den Piloten angezeigt, passend zum Steigflug. Doch die beiden schienen nicht überprüfen zu können, ob der Wert verläßlich war.
Die beiden Piloten hatten die maximale Schubkraft angewählt. Doch als die Flughöhe von knapp 38 000 Fuß erreicht war, waren die Triebwerke technisch nicht mehr in der Lage, den Schub zu leisten, und der Sinkflug begann.
3.2. Auch alle drei Piloten zusammen können die Probleme nicht lösen
Verstärkung des Teams
Robert bediente sich in der undurchsichtigen Lage einer wichtigen Resource der Crew und holte um 02:10 Uhr 46 Sekunden per Anruftaste den Kapitän wieder in das Cockpit zurück. Dieser erschien weniger als eine Minute später und nahm auf dem Reservesitz hinter den beiden Ersten Offizieren Platz.
Bonin und Robert waren zu diesem Zeitpunkt nicht fähig, eine strukturierte Übergabe zu machen. Stattdessen gaben sie in informeller Sprache offen zu, daß sie alles versucht hatten und nichts verstanden.
Weitere Flugmanoeuver
Robert versuchte um 02:11 Uhr, die Kontrolle über den Flug zu übernehmen, doch ohne dies formell anzukündigen. Durch die nächste Aktion Bonins an seinem Sidestick wurden daher wieder seine Eingaben umgesetzt.
Der rapide Sinkflug führte zu einem gewaltigen aerodynamischen Lärm, ähnlich dem Geräusch von Sturmböen. Bonin nahm, möglicherweise auch deshalb, an, daß sie viel zu schnell flogen. Er wollte daraufhin die Luftbremse einsetzen. Dem widersetzte sich Robert sofort. Es wäre in der Situation des Sinkfluges auch ein falsches Manoeuver gewesen.
Der Anstellwinkel und die Warnung „stall“
Um 02:12 Uhr tat Bonin das richtige um die Maschine zu stabilisieren. In einem Moment ohne die häufige akustische Warnung „stall, stall“ maximierte er den zwischenzeitlich reduzierten Schub wieder und drückte den Sidestick nach vorne.
Doch sobald das Flugzeug sich in einem etwas flacheren Anstellwinkel befand, erklang paradoxerweise die Warnung „stall, stall“ erneut. Es schien so zu sein, daß sie ausschließlich bei einem nicht zu extremen Anstellwinkel ausgelöst wurde. Verständlicherweise verunsichert, verließ den Piloten nun der Mut, das Manoeuver durchzuhalten.
Der Sinkflug setzte sich fort
In der Folge konzentrierte sich die Crew zu dritt darauf, die Flügel möglichst horizontal zu halten. Gleichzeitig waren sie sich nicht einig, ob sie sich in einem Sink- oder Steigflug befanden. Sie trauten ihren Instumenten nicht und hatten weiterhin in der Nacht keine visuelle Orientierung.
Zwischenzeitlich bewegten beide Piloten den Sidestick, was zur Warnung „dual input“ führte. Während sich in der Realität der rasche Sinkflug weiter fortsetzte, bewegte sich die Flugzeugnase auf und ab, doch insgesamt blieb der Anstellwinkel zu groß.
Der zumeist zurückgezogene Sidestick fiel endlich auf
Um 02:13 Uhr bemerkte die Crew, daß sie rapide an Flughöhe verlor. Robert realisierte zudem bei erneutem „dual input“, daß er mit seinem Sidestick nicht die Kontrolle über das Flugzeug hatte.
Auf eine Aufforderung von Robert um 02:13 Uhr 39 Sekunden hin, die Maschine hochzuziehen („climb, climb, climb, climb“), antwortete Bonin endlich, daß er den Sidestick schon länger zurückgezogen hatte. Robert setzte sich mit seiner Forderung, die Kontrolle zu übernehmen, schließlich durch und bekam sie auch formal.
Der Ozean näherte sich nun rasch, auch das Bodennäherungs-Warnsystem erkannte dessen Oberfläche, und der Alarm „pull up“ erklang. Zu diesem Zeitpunkt war es also zu spät, das Flugzeug nach dem Überziehen durch Senken der Nase zur Reduktion der Flughöhe und Steigerung der Schubkraft zu stabilisieren. Robert maximierte die Schubkraft erneut und versuchte noch, die Maschine hochzuziehen. Doch um 02:14 Uhr 26 Sekunden endeten die Aufzeichungen des Cockpit Voice Recorders.
4. AF 447 aus Sicht des CRM
Im Nachhinein ist es einfach und dennoch lehrreich, die Fakten in Verbindung mit CRM-Aspekten in Ruhe anzusehen. Der Crew war es in der akuten Situation offenkundig nicht möglich, auf ihr CRM-Training zurückzugreifen.
4.1. Die Schreckreaktion ist ein wichtiges CRM-Thema
Ein unerwartetes, potentiell gefährliches Ereignis löst die evolutionsbiologisch uralte Schreckreaktion aus, die zunächst zu einer Schockstarre führt und daraufhin auf Flucht oder Kampf vorbereitet. Geht dem Ereignis eine emotionale Belastung, ein stressiger Arbeitstag oder sogar Fatigue voraus, wird die Schreckreaktion dadurch verstärkt.
Es ist ein Teilgebiet des CRM, sich auf die Möglichkeit solcher Ereignisse gezielt vorzubereiten und die Resilienz zu entwickeln, nach dem initialen Schreck adäquat denk- und handlungsfähig zu sein.
4.2. Vorbereitung, situative Aufmerksamkeit, Entscheidungsfindung, Teamarbeit
Vorbereitung
Wir wissen nicht, inwieweit sich die Piloten bei der Planung ihres Fluges über das Durchfliegen der innertropischen Konvergenzzone ausgetauscht haben. Es ist aus den Aufzeichnungen nicht erkennbar, daß sie währenddessen auf einen vorbereiteten Plan, der auch Maßnahmen im Falle von möglichen Ereignissen, wie dem Eisregen und Turbulenzen, zurückgegriffen hätten.
Situative Aufmerksamkeit
Die situative Aufmerksamkeit der Cockpit Crew war nach dem Ausfall des Autopiloten erheblich beeinträchtigt. Räumlich wußten sie nicht, wo sie sich mit welcher Geschwindigkeit bewegten und sie erkannten auch den Strömungsabriß, bedingt durch den zu steilen Anstellwinkel, nicht. Erschwert wurde die räumliche situative Aufmerksamkeit dadurch, daß sie keinerlei visuelle Orientierungspunkte hatten.
Auch für Handlungen (zurückgezogener Sidestick), die Informationen und Warnungen fehlte die situative Aufmerksamkeit, um diese richtig wahrnehmen und verabeiten zu können.
Analyse der Fakten und Entscheidungsfindung
Eine ruhige und strukturierte Analyse der Fakten als Teil der Entscheidungsfindung fand nicht mehr statt. Die Piloten konnten nicht herausfinden, welche Flugparameter und Warnungen real waren und wie sie darauf reagieren sollten.
Sie nahmen auch keine Checklisten (allen voran die „Unreliable Speed Indication Checklist“) oder das Notfallhandbuch (quick reference handbook) zur Hilfe und führten das Procedere bei unverläßlicher Anzeige der Fluggeschwindigkeit nicht aus.
Es gab keine klare Entscheidungsfindung nach einem Modell, das Struktur bietet, wie FORDEC (facts, options, risks and benefits, decision, execution, check and control). Stattdessen wurde unkoordiniert und sofort auf das scheinbar vordringlichste Problem reagiert.
Die Teamarbeit in den entscheidenden Minuten
Es gelang dem Team im Verlauf nicht, ein gemeinsames mentales Modell von der Situation zu entwickeln. Dies geschah wohl am ehesten, da diese sich zu schnell entwickelte, zu viele Dinge gleichzeitig passierten, die Piloten daher überfordert waren und somit ihre Lage nicht begriffen.
Das Team hat kein Team Time Out, z. B. ein 10-für-10 (zehn Sekunden für die nächsten zehn Minuten) vorgenommen. Ein Team Time Out ist eine kurze Auszeit des gesamten Teams, um die Fakten zu analysieren, damit das oben erwähnte gemeinsame mentale Modell zu etablieren und die nächsten Schritte festzulegen.
Die Rollenverteilung insgesamt zwischen dem Kapitän und den beiden Ersten Offizieren wird auch im Flugunfallbericht diskutiert, mit der Frage ob sie für das Durchfliegen der ITC angemessen war (Seite 172 f.).
Verteilung der Arbeitsbelastung
Die Arbeitsbelastung war in den vier Minuten hoch. Hinzu kamen die vielen visuellen und akustischen Reize durch die Warnungen. Durch den initialen Schreck, den Streß und die Konfusion konnte die Crew die Aufgabenverteilung nicht handhaben, was wiederum die Chance minimierte, das Chaos aufzulösen.
4.3. Die Kommunikation verlor an Formalität
Schon aufgrund ihres Bemühens, in ihrem Streß das Chaos zu durchblicken, haben die Piloten die Regel des sterilen Cockpits insofern nicht verletzen können, als daß nur Inhalte besprochen wurden, die mit der Situation unmittelbar zutun hatten. Andererseits mischten sich mehr und mehr Flüche in die Kommunikation.
Geschlossene Kommunikationsschleifen lassen sich in den vorgelesenen Aufnahmen nicht erkennen. Die wichtige Mitteilung von Robert bei seinem ersten Versuch, die Steuerung zu übernehmen, blieb aus. Nach Rückkehr des Kapitäns in das Cockpit konnten die beiden Ersten Offiziere keine strukturierte Übergabe machen.
Insgesamt wurde die Sprache immer informeller, sie zeigte den Streß und den Verlust der Kontolle seitens der Piloten deutlich. Möglicherweise hat diese stark beeinträchtigte Kommunikation ohne standardisierte Formulierungen die Problemerkennung zusätzlich erschwert.
5. Zusammenfassung wichtiger Punkte
Hier werden wir soweit wie möglich betrachten, wie man die Absturzursache in der Zusammenschau benennen kann und welche Rolle das Training gespielt haben könnte, dem sich Piloten hochmoderner Flugzeuge unterziehen. Wir werden auch beleuchten, welchen Zusammenhang heutige Automation und Schreckreaktion haben können.
5.1. Erst cognitiver Verlust der Kontrolle, dann physischer Kontrollverlust über das Flugzeug
Zusammengefaßt wurde der Absturz von AF 447 durch einen Kontrollverlust verursacht, zu dem nicht nur die unten aufgeführten Faktoren beigetragen haben, sondern auch ein paar derer, die in dem Artikel „Loss of Control“ erwähnt sind. Insgesamt führt ein Kontrollverlust mit am häufigsten zu einem tödlichen Flugunfall.
Wichtige Faktoren, die auf dem Flug AF 447 zum Verlust der Kontrolle beitrugen, noch einmal zusammengefaßt:
- Wetterphänomene, die zumindest Bonin beunruhigt hatten
- der Kapitän zog sich unmittelbar vor Einfliegen in die Gewitterzone zu seiner Pause zurück
- Gewitter, Eisregen, Einfrieren der Pitot Röhrchen, Autopilot und automatische Schubregelung schalteten sich ab
- angezeigte Parameter ergaben keinen Sinn
- es war die manuelle Kontrolle über das Flugzeug in Reiseflughöhe in einer turbulenten Wetterlage plötzlich erforderlich
- Überraschung und Schreckreaktion
- der am wenigsten erfahrene Pilot an Bord blieb zunächst fliegender Pilot
- inadäquates Zurückziehen des Sidesticks und Überziehen der Maschine
- das Prozedere bei unverläßlicher Anzeige der Fluggeschwindigkeit wurde nicht durchgeführt
- Streß und Verwirrung durch hohe Arbeitsbelastung, Alarme und Flugparameter, die für die Piloten keinen Sinn ergaben
- weitere Belastung dadurch, daß die Piloten das Chaos nicht durchblicken konnten
- in der Folge waren sie nicht in der Lage, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen
- in einer Abwärtsspirale verschlechterte sich die Situation, bis Robert vermutlich das Überziehen der Maschine als Problem erkannte, es aber zu spät war, den Flug noch zu retten
- der Flug fand mitten in der Nacht statt, die Leistungsfähigkeit sinkt in den frühen Morgenstunden ab
Aus Sicht des CRM hatten vermutlich folgende Punkte am Kontrollverlust einen Anteil:
- die Schreckreaktion wurde anscheinend als solche nicht realisiert
- es ist fraglich, ob in der Flugplanung auf die ITC speziell eingegangen wurde
- kein gemeinsames mentales Modell von der Situation
- Verlust der situativen Aufmerksamkeit
- Checklisten wurden nicht zur Hand genommen
- eine sachliche Analyse der Fakten und strukturierte Entscheidungsfindung war nicht mehr möglich
- es ist unklar, ob die Rollenverteilung im Team optimal war
- kein Team Time Out (z. B. 10-für-10)
- nachlassende Kommunikationsfähigkeiten im Verlauf
- die anfallenden Aufgaben konnten nicht sinnvoll aufgeteilt und bearbeitet werden
5.2. Automation und das Training der manuellen und cognitiven Flugfertigkeiten
Daß die Automation die manuellen Flugfertigkeiten der Piloten reduziert, wurde auch im Zusammenhang mit AF 447 diskutiert. Insbesondere wurde darauf eingegangen, daß auch das Simulatortraining nicht darauf ausgelegt ist, eine unerwartete Situation in großer Höhe plötzlich ohne Autopiloten zu meistern. Es ist explizit zu erwähnen, daß alle drei Piloten vollumfänglich trainiert und zertifiziert waren, sie aber dennoch nicht darauf vorbereitet waren, richtig auf die Situation zu reagieren, die sich ihnen bot.
5.3. Überraschung und Schreckreaktion in Zeiten der Automation
Die Automation sorgt dafür, daß viele Systeme in modernen Flugzeugen mit hoher Verläßlichkeit und nur wenigen Ausfällen funktionieren. Dadurch werden Piloten seltener mit unerwarteten Situationen konfrontiert. In Zusammenschau mit dem dafür nicht ausreichenden Simulatortraining, steigert die geringe Exposition den Überraschungseffekt und die nachfolgende Schreckreaktion.
6. Konsequenzen von AF 447 für Ausrüstung, Training und mehr
Aufgrund der Fülle können wir hier nur eine Auswahl der Empfehlungen und Umsetzungen zu den nachfolgenden Themen ansehen. Alle übrigen, die unter anderem auch Such- und Rettungsaktionen sowie die Flugaufsicht betreffen, können am Ende des finalen Unfallberichtes der BEA nachgelesen werden. Nicht nur die BEA, sondern auch die EASA, die FAA, Airbus und Air France reagierten mit Analysen, Empfehlungen und Neuerungen.
6.1. Die Pitot Röhrchen
Die am Airbus A330-203, F-GZCP, montierten Pitot Röhrchen „Thales AA“ wurden diskutiert. Bereits vor dem Crash von AF 447 hatten sich Ausfälle der Geschwindigkeitsanzeige ereignet, glücklicherweise ohne tödlichen Unfall. Air France hatte vor dem 1. Juni 2009 bereits angefangen gehabt, „Thales AA“ an seiner Flotte gegen „Thales BA“ auszutauschen, was nach dem Unfall beschleunigt wurde. Auf eine Direktive der EASA hin, wurden „Thales BA“ später durch Goodrich Pitot Röhrchen ersetzt, welche auch bei Eiskristallbildung stabiler funktionieren.
6.2. Anpassung des Trainings für Piloten
Die BEA empfahl in ihrem finalen Unfallreport der EASA, verpflichtendes Training für Piloten einzuführen, in welchem manuelles Fliegen und Stabilisierung der Maschine nach Überziehen, insbesondere in Reiseflughöhe, geübt wird (Seite 204).
Tatsächlich wurde für das Training am Simulator eine neue Einheit eingeführt, in der insbesondere der Umgang mit nicht verläßlichen Geschwindigkeitsangaben und Überziehen der Maschine, auch in Reiseflughöhe, trainiert werden.
Im Gedenken an die 228 Menschen, die auf dem Flug AF 447 von Rio de Janeiro nach Paris am 1. Juni 2009 ihr Leben verloren.
Die Leichname von 74 Opfern wurden nie gefunden. Den Angehörigen erschwert es die Trauerarbeit enorm, kein Grab für sie haben zu können.
7. Im nächsten Artikel: Automation als Lösung?
Was passiert, wenn zur Lösung eines technischen Problems ein automatisiertes System installiert wird, ohne daß die Beteiligten davon erfahren? Wie müssen diese Beteiligten es erlebt haben, als sie mit einer erheblichen Fehlfunktion konfrontiert waren, aber keine Möglichkeit hatten, suffizient einzugreifen? Wir werden im August ansehen, was sich leider nicht nur einmal zugetragen hat.
Autorin: Eva-Maria Schottdorf
Datum: 9. Juli 2023
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